Laut und locker aus der Hüfte

30 Meter fliegen die Holzkugeln durch die Luft. Boccia hat mit wassergefüllten Plastikbällen wenig zu tun. Und mit dem französischen Boule auch nicht viel. Es ist kroatischer Volkssport. Am Wochenende war Saisonauftakt im Humboldthain

von ANDREAS RÜTTENAUER

Endlich ist das Wetter so, wie es sich für den Frühling gehört. Darauf haben sie lange gewartet. Die Saison beginnt. Man kann sie schon hören, lange bevor man sie sieht: kehlige Männerstimmen. Sie schreien sich kurze Sätze, oftmals nur einzelne Wörter zu. Es sind Anfeuerungsrufe. Auf der großen Wiese inmitten des Volksparks Humboldthain in Wedding treffen sie sich. Reife Männer spielen Boccia.

Boccia? Wer dabei an die schwächlichen Wurfversuche des greisen Konrad Adenauer oder an die bunten Plastikkugeln aus dem Spielwarengeschäft denkt, der hat noch keine dieser großen Holzkugeln durch die Luft über dem Humboldthain fliegen sehen. Bis zu 30 Meter weit werden die hölzernen Bälle geschleudert. Ein paar Schritte Anlauf, dann springen die Spieler ab, katapultieren die Kugel aus der Hüfte nach oben, landen mit demselben Bein, mit dem sie abgesprungen sind, wieder auf dem Boden, und verfolgen die Flugbahn ihres Spielgeräts. Es kommt darauf an, die eigene Kugel so nah wie möglich an der weißen Zielkugel zu platzieren.

Boccia funktioniert ähnlich wie Boule, doch es hat nichts von der Behäbigkeit des französischen Gesellschaftsspiels, es wirkt dynamischer. Auf den Wegen rund um die Wiese, die als Spielfeld dient, tummeln sich Frauen in bunten Trainingsanzügen und versuchen mit Power-Walking ins Schwitzen zu kommen. Die Bocciaspieler wirken sportlicher.

An den Osterfeiertagen ist die Gemeinde des Kugelsports besonders groß. Mehr als 50 Spieler sorgen für eine veritable Geräuschkulisse. Es ist eine reine Männerrunde, die sich versammelt. Früher seien auch die Frauen und die Kinder mitgekommen, erzählt Drago Bandic, einer der Sportsfreunde. Seit 30 Jahren schon treffe man sich im Humboldthain. Bandic beginnt von früher zu erzählen – es ist die typische Geschichte eines Gastarbeiters der ersten Generation. Fast alle aus der Runde sehen auf ein ähnliches Leben zurück. Die meisten von ihnen sind um die 50 Jahre alt, einige schon im Rentenalter. Sie erzählen von ihrem Leben in der Bundesrepublik, das meistens irgendwo in Westdeutschland begonnen hat. Als Bauarbeiter hat man die meisten von ihnen einst aus dem ehemaligen Jugoslawien angeworben. Anfang der 70er sind sie schließlich nach Berlin übergesiedelt.

Das habe sich damals richtig gelohnt, schließlich habe es die Berlinzulage noch gegeben, erinnert sich Petar Geda. Er ist, wie fast alle aus der Gruppe, Kroate. Geda ist nur unter der Woche im Humboldthain. Am Wochenende trifft sich seine Boccia-Clique am Weddinger Leopoldplatz.

Auch in anderen Bezirken schleudern Kroaten Kugeln durch die Lüfte. In Moabit, am Blücherpark in Kreuzberg und auch in Steglitz werde Boccia gespielt. „Früher hat es richtige Bezirksturniere gegeben.“ Auch Geda redet viel von früher. Und die Frauen? „Ach, die treffen sich privat“, winkt der 57-jährige Zimmermann ab: „Die spielen sowieso nicht Boccia.“

Für 14 Uhr sind die Männer mit den Kugeln verabredet. Schon eine halbe Stunde vorher schleichen die ersten Bocciaspieler über den Rasen zu den drei Bänken, die sie sich unter der Krone eines Baumes zusammen geschoben haben. Die erste Flasche Wein wird entkorkt. Einer hat eine Kühltasche auf dem Gestell eines Zwiebelporsches zum Treffpunkt gerollt. Wer will, nimmt sich ein Bier. Jetzt werden die Kugeln ausgepackt.

Keine sieht so aus wie die andere. Die Spielgeräte sind regelrecht getunt. Um sie schwerer zu machen, drehen die Spieler Messingschrauben in die Holzkugeln, die dadurch ein wenig aussehen wie Folterinstrumente.

Die Stimmen erheben sich, als die Mannschaften gebildet werden. Es wird „Vier gegen vier“ gespielt. Wer nicht Kroatisch spricht, versteht nicht viel. „Tschetnik“ ist zu hören und „UCK“. Es wird gelacht. „Der da ist Albaner, der kommt aus Mazedonien“, erklärt Drago Bandic.

Der „Tschetnik“ heißt Marinko Oljaca und ist seinerzeit aus Bosnien-Herzegowina übergesiedelt. „Was heißt Serbe? Ich habe einfach eine andere Religion, ich bin orthodox.“ Oljaca meint, dass er keine Probleme in der Gruppe habe. Dass er in der Schule das kyrillische Alphabet gelernt habe, mache ihn noch lange nicht zum Serben. Vor dem Krieg habe das sowieso keine Rolle gespielt. Auch Oljaca redet von früher. Als er an der Reihe ist, ruft wieder jemand „Tschetnik“.

Alle Augen richten sich auf Vujcic Neved. Er ist einer der acht Spieler, die das erste Match bestreiten. Die übrigen Männer wandern mit den Kugeln auf und ab und kommentieren als kritische Zuschauer das Spiel – lautstark, versteht sich. Neveds Wurfstil wirkt besonders elegant. Mit seinen 36 Jahren ist er ein wahrer Jungspund in der Männerriege. „Ja, das ist ein Problem, vielleicht liegt es daran, dass so viele in der Gastronomie arbeiten.“ So recht weiß auch er nicht, warum es kaum Nachwuchs bei den Bocciaspielern gibt. „Ach“, die älteren Spieler winken ab, „die gehen doch nur in die Disco, die interessiert das nicht.“ Und dann erzählen sie wieder von ihrer Jugend, von ihren Vätern, die sie mitgenommen haben zum Bocciaspielen.

„In Kroatien war das normal, damit sind wir aufgewachsen, da ist Boccia Nationalsport“, erzählt Bandic. Auch Nachwuchsmann Neved erzählt von früher. Nein, er sei nicht in Deutschland geboren. Die Familie sei dem Vater nach Deutschland gefolgt, als er acht Jahre alt gewesen sei. Jetzt erzählen auch die Älteren von ihrer Familie, von ihren Kindern, die in Berlin aufgewachsen seien, Lehrberufe ergriffen, studiert hätten, von den Enkeln, die schon geboren seien, auf die sie noch warteten. Dann reden sie wieder über Boccia, berichten stolz, dass Kroatien gerade Vizeweltmeister geworden sei, und reden von früher.