So schön kann Fußball sein

Der Schwabe Ralf Rangnick küsst den „schlafenden Riesen“ Hannover 96 wach und führt ihn mit modernem Fußball in die Bundesliga. Getränke und Bratwürste kosten dennoch weiterhin 2 Euro

Am stilistischen Drumherum lässt sich in Hannover noch eine Menge verbessern

aus Hannover DIETRICH ZUR NEDDEN

Was seit langem kaum mehr zu bezweifeln war, ist nun auch mathematisch geklärt und endgültig festgezurrt: Die 1. Bundesliga hat Hannover 96 wieder. Mit einem 6:0 über Schweinfurt kanterten sich die Roten vor 38.500 Zuschauern fünf Spieltage vor Saisonende zurück nach oben. Was das bedeutet für eine Stadt, die sich andauernd – zuletzt für das finanzielle Fiasko einer Weltausstellung – verspotten lassen muss, ist jenseits der Regionsgrenzen kaum vorstellbar: Eine Art Metropole, die niemand von außen als solche wahrnimmt, eine Landeshauptstadt, deren Psychostruktur aus einem Minderwertigkeitskomplex besteht, der ab und zu ins Manisch-Depressive lappt, darf sich wieder dazugehörig fühlen.

Und sie war deshalb schon vor dem Anpfiff umfassend euphorisch. Eine kleine Regierungspartei hatte Werbezeit auf der Anzeigentafel gebucht, um Kryptisches mitzuteilen: „Lieber Grüne Kicker als Rote Teufel – Bündnis 96/Die Grünen“; ein zwangslustiges Gesangstrio in Müllmännerhosen krähte schadenfroh „Ohne Holland fahr’n wir zur WM“; später witzelte es nach jedem Tor vom Display: „Und wieder ein Ei fürs Schweinfurter Nest.“ Fazit: Insgesamt lässt sich stilistisch am Drumherum noch eine Menge verbessern, solange aber ein Privatdudelfunk die akustische Stadionhoheit besitzt, wird sich wohl nichts ändern.

Doch erinnert sich überhaupt noch jemand außerhalb Niedersachsens an die letztmalige Anwesenheit des Deutschen Meisters von 38 und 54, des Pokalsiegers von 92 in der ersten Klasse? Dreizehn Jahre ist der letzte Abstieg her und zwischendurch drehte man sogar zwei Runden in der Regionalliga. Unbeschadet der Tatsache, dass Hannover 96 nur 14 von 39 Spielzeiten in der Bundesliga verbrachte (so viele wie der KFC Uerdingen), gilt der Klub bundesweit als Traditionsverein, ein Etikett, das genauso gern als Synonym genommen wird wie (anlässlich von ausverkauften Drittligaspielen) der „schlafende Riese“, der nur geweckt werden müsse. Das versuchten seit 1989 unter 7 Präsidenten immerhin 16 Trainer.

Der siebzehnte, der Schwabe Ralf Rangnick, übernahm vier Monate nach seinem Rücktritt beim VfB Stuttgart eine offenkundig lust- und orientierungslose Truppe, aus der er umgehend eine Mannschaft formte, die großartigen Fußball spielt. Er habe, sagte Rangnick, durch das Pokalspiel gegen den VfB und die Beobachtungen vorher „um das Potenzial des Teams“ gewusst. Und nun macht sein Kollektiv tatsächlich den Eindruck, als ob es an nichts anderes denkt, als das Wörterbuch des modernen Fußballs mit lebenden Bildern auszustatten: ballorientiertes Pressing, Überzahl schaffen, verschieben, zustellen, ausschwärmen auf den Laufwegen, schnell, variantenreich spielen – you name it.

Die hannoverschen Zuschauer jedenfalls staunen: So schön kann Fußball sein, den man im Stadion miterlebt? Sie lernten noch mehr: Er kann erfolgreich sein. Ein einziges Punktspiel hat Hannover 96 bisher verloren. Dass genau dieselben Zuschauer spätestens nach fünf sieglosen Erstligaspielen hintereinander nach Blutgrätschen, Fernschüssen und Grasfresserei schreien werden, ist allerdings und leider vorhersehbar.

Wie es sich nach den Gesetzen des modernen Fußballs geziemt, kommt die Mannschaft ohne Stars aus, obwohl sich natürlich vieles über Sievers, Linke, Cherundolo, Stendel, Lala, Krupnikovic u. a. sagen ließe. Auf jeden Fall ohne Starallüren. Wenn da nicht ein junger 96-Spieler wäre, der regelmäßig Kummer macht: Jan Simak, ein Tscheche mit genialischen Fähigkeiten und problematischen Umgangsformen, scheint sich alle Mühe zu geben, aus seinem Vertrag herauszukommen. Er bleibt, versichert Präsident Kind, selbst wenn Simak seinen Vertrag auf der Tribüne absitzen müsse.

Detailliertere Auskünfte wird Fußball-Deutschland erst in einigen Monaten verlangen, während sich im kühlen Norden bis dahin ein Fest an das andere reiht, wobei das am Sonnabend von der Anzeigentafel aus so eingeleitet wurde: „Liebe Fans, bei der anschließenden Feier gibt es keine Sonderpreise. Alle Getränke, Bratwurst etc. kosten 2 Euro. Sonderpreise erst bei der Feier am 6. Mai.“