Eine griechische Idee von Politik

Wahlen in Frankreich (II): In der Mediendemokratie müssen die Globalisierungskritiker von Attac lernen, dass eine Lobby der Bürgervernunft einen langen Atem braucht

Wenn es im Wahlkampf konkret wird, folgen die Hauptduellanten dem sozialliberalen Mainstream

„Natürlich sind wir wütend“, sagt Jean-Luc Cipière, „sehr wütend. Nichts von dem, was wir in diesem Wahlkampf getan haben, hat irgendeine Wirkung gehabt. Nicht die geringste.“ Der graulockige Agrarwissenschaftler, ein „Achtundsechziger“, gründete 1998 in Lyon die Gruppe Attac-Rhône. Zwei Jahre lang hat Cipière, ein rhetorisches Naturtalent, rekrutiert und organisiert, gelesen und geschult. Attac-Rhône, das ist heute eine Gruppe mit wachsendem Innenleben und Einfluss auf die öffentliche Meinung der Region: ob es um die Rekommunalisierung der Wasserwerke geht, um die Aufklärung von Abgeordneten über die Welthandelsorganisation WTO und Tobinsteuer oder die Produktion eines Aufklärungsfilms über die WTO, der in vielen Schulen der Stadt läuft.

Im Januar hatte Attac-Rhône mit der Aktion „RAM“ (rassemblement pour un autre monde) die ganze Stadt bespielt. Überall Filme, Konzerte, Vorträge, Partys, die auf den Weltsozialgipfel in Porto Alegre aufmerksam machten, auf seine Themen setzten und auf sein Leitmotiv: „Es kommt darauf an, die Zukunft der Welt in die Hand zu nehmen.“ Die gesamte Gegenkultur der Stadt unterstützte die Aktion. Dann war Jean-Luc Cipière als Delegierter in Porto Alegre, und natürlich kam er mit einem Überschuss an Euphorie zurück. Eigentlich ist er enttäuschungsfest, aber dass die Abgeordneten, die dutzendweise dort waren, die Hand voll amtierender Minister und der Präsidentschaftskandidat Chévènement, als sie aus Porto Alegre zurückkamen, sofort in eine „tiefe Amnesie fielen“, das trifft ihn doch.

Ebenfalls im Januar hatte Attac-France im Pariser Zenith-Saal eine große Kundgebung veranstaltet, José Saramago hielt eine bewegende Rede über die Gerechtigkeit, und das „Manifest 2002“ wurde verabschiedet. Kein „Wahlprüfstein“ à la DGB, sondern, auf zwanzig Seiten, eine konsistente (ja, wenn man so will: sozialdemokratische) Alternative zum sozialliberalen Mainstream. Ein sehr französisches, also sehr rationales Manifest dazu: von der Voraussetzung, der Zähmung der Märkte, logisch absteigend zu den einzelnen Politikfeldern. Entscheidend für die Wiedergewinnung der Politikfähigkeit sei die demokratische Inbesitznahme der internationalen Finanzinstitutionen und der EU. Diese seien schließlich keine schicksalhaften „Institutionen, mit denen unsere Regierung nichts zu tun hätte […], die Vertreter der französischen Regierung haben all diesen Beschlüssen ausdrücklich zugestimmt“. Die Wiedergewinnung der staatlichen Steuersouveränität aber sei die Voraussetzung für die Bewahrung und den Ausbau des Sozialstaats. Diese wird im Folgenden in fünfzehn Kapiteln durchdekliniert: von der Verteidigung der öffentlichen Dienstleistungen über eine effektive Politik gegen die Jugendarbeitslosigkeit, die Entmarktung des Gesundheitssystems und die Verteidigung der Rentenkassen bis zur Bewahrung der kulturellen Vielfalt einer gerechten Welthandelsordnung und einem Marshallplan für den Süden. Dieses politische Projekt, das die Veränderungen der internationalen und europäischen Rahmenbedingungen fordert, vergisst aber nicht, dass bis auf weiteres nur national gewählte Regierungen die Entscheidungen in IWF, WTO und EU-Kommission beeinflussen können.

„Wir alle“, sagt Jean-Luc Cipière, „die wir diese Bewegung aus Ekel vor der Politik, die wir vorgesetzt kriegen, angefangen haben, müssen wieder den Kontakt zu den Entscheidern finden.“ Sicher, man muss schon sehr fest an die alte griechische Idee der Politik als öffentliche Angelegenheit aller glauben, um den Ekel zu überwinden und diesen Politikern wieder ein wenig Manövrierraum zu schaffen.

Das „Manifest 2002“ zirkulierte in 500.000 Exemplaren und sollte einige Themen für den Wahlkampf setzten. Aber: „Es geht nur um die Mitte und die Stimmen, die man sich dort taktisch abjagen kann. Weder Europa ist ein Thema noch die Globalisierung“, meint die Attac-Vizepräsidentin Susan George.

Das gilt wohl für alle Kandidaten (mit Ausnahme der radikallinken Arlette Laguiller, die nach Chirac und Jospin mit 10 Prozent in den Umfragen abschneidet). Es ist inzwischen guter Ton, vor dem ungezähmten Kapitalismus zu warnen, zu betonen, dass die Gesundheit keine Ware sei, aber wenn es überhaupt konkret wird – etwa bei den Aussagen zum Rentensystem oder den Steuersenkungen –, folgen die Hauptduellanten dem sozialliberalen Mainstream. Nicht zu Unrecht denken fünfzig Prozent der Franzosen inzwischen, dass die Programme von Chirac und Jospin weitgehend identisch sind. Und natürlich stricken die Medien an dieser Abwesenheit von wirklichen Themen mit, vor allem dagegen wollen die Attac-Aktivisten in den nächsten Wochen noch etwas unternehmen: etwa eine Schweigedemonstration zu den Fernsehanstalten, die den inszenierten Scheingefechten nichts entgegensetzen.

Die Frustration der Attac-Mitglieder ist verständlich, denn der Protest ist auf funktionierende demokratische Institutionen angewiesen; aber die fast griechische Idee des Jean-Luc Cipière, die Nation müsse wieder die großen Themen diskutieren, ist dennoch nicht nostalgisch oder systemtheoretisch überholt. Sie kann sich nur in den Perioden medialer Wahlkämpfe, in denen es um Machterhalt geht und sonst um gar nichts, naturgemäß am wenigsten entfalten. Die langsam wachsende Bewusstheit der Bürger über den „großen“ Reformbedarf wird vom rhetorischen Opportunismus der Kandidaten zugenebelt, etwa wenn Chirac gegen die „wilde Globalisierung“ wettert, aber natürlich das System der Agrarexportsubventionen verteidigt, das jede Möglichkeit regionaler Entwicklung, in Europa oder Afrika, unmöglich macht.

Mögen auch ein paar hunderttausend Leser von Le Monde diplomatique, 40.000 Attac-Mitglieder zunehmend präzisere Vorstellungen von Veränderungen in der wirtschaftspolitischen Machtarchitektur formulieren und verbreiten, in Manifesten, Büchern, Broschüren – Attac muss in den Zeiten der verschärften Mediendemokratie lernen, dass eine Lobby der Bürgervernunft einen langen Atem braucht. „Wir sind eben noch nicht genug“, sagt Jean-Luc Cipière, „immer mehr Menschen teilen unsere Ideen, aber die sehen nun: Trotz aller Argumente bewegt sich nichts.“ Und: „Mich macht das nicht froh. Ich fürchte gewalttätige Ausbrüche, vor allem der Jungen.“ Politische Depressionen? „Ach was, wir betreiben Selbstkritik. Wir brauchen bessere Methoden, um die Aktionen in Handlungen enden zu lassen“, meint Cipière. „Wir müssen uns noch stärker auf die Aufklärung der Bürger konzentrieren.“

1.000 aktive Bürger in Lyon, die bewegen nicht nur einiges, die sind schon eine kleine Gegengesellschaft

Das war wohl schon immer so, und Attac, so hat es eines seiner Mitglieder einmal gesagt, ist eben „la démocratie des plus motivés“. Die Demokratie der Motivierten: 1.000 Aktivbürger in einer Großstadt wie Lyon, die bewegen nicht nur einiges, die sind schon eine kleine Gegengesellschaft, in der Politik und Leben sich verflechten. Und das muss sein, damit man den langen Atem behält.

MATHIAS GREFFRATH