Muscharraf in Kabul

Erstmals seit 1972 besucht ein pakistanischer Präsident den Nachbarn. Nettigkeiten übertünchen Ressentiments

KABUL taz ■ Pakistans Staatspräsident Pervez Muscharraf hat gestern überraschend seinem afghanischen Amtskollegen Hamid Karsai in Kabul besucht. Der Flughafen der afghanischen Hauptstadt wurde kurzfristig abgeriegelt, als der pakistanische Militärmachthaber landete und von Karsai willkommen geheißen wurde. Die beiden führten danach ein mehrstündiges Gespräch, bei dem zeitweise auch die pakistanische Delegation, darunter mehrere Kabinettsminister, hinzugezogen wurde.

Bei der anschließenden Pressekonferenz bezeichnete Karsai das Treffen als natürliches Resultat der Nachbarschaft beider Staaten. Es sei über den grenzüberschreitenden Terrorismus gesprochen worden sowie über die Verstärkung der Zusammenarbeit bei der Drogenbekämpfung. Karsai dankte bei dieser Gelegenheit Pakistan dafür, dass es Afghanistan in schwierigen Zeiten beigestanden habe. Muscharraf revanchierte sich und nannte Karsai seinen „Bruder“. Pakistans einziges Ziel sei es, seinem Nachbarn zu helfen.

Die Geheimhaltung des Besuchs zeigt aber, dass die diplomatischen Freundlichkeiten die lokale Grundstimmung in keiner Weise widerspiegeln. Zweifellos wollte die Regierung in Kabul keine feindlichen Äußerungen gegen den Gast riskieren und konnte es sich nicht leisten, den ersten Besuch eines pakistanischen Staatschefs nach 30 Jahren gebührend herauszustreichen.

Denn Pakistan hat in der Dämonologie der Afghanen inzwischen die Rolle der Sowjetunion als Erzfeind übernommen. Pakistans Hilfe im Kampf gegen die sowjetische Besatzungstruppen wird längst überdeckt von der entscheidenden Rolle Islamabads beim Aufbau der Taliban. Es wird auch pauschal für die Diadochenkämpfe unter den Mudschaheddin nach dem Abzug der Sowjets und die Duldung des Taliban-Terrors haftbar gemacht.

Bis heute herrscht im afghanischen Volk die Meinung vor, dass der Nachbar den Taliban- und Al-Qaida-Zellen in den paschtunischen Stammesgebieten weiterhin Unterschlupf gewährt. Es war ein günstiger Zufall für Muscharraf, dass zwei Tage zuvor 16 vermutliche Al-Qaida-Leute in Lahore verhaftet (und an die USA ausgeliefert) worden waren, darunter vielleicht sogar Abu Subaidah, der mutmaßliche militärische Chef des Netzwerks.

BERNARD IMHASLY