Endlich Nein sagen können

■ Bremer Ärzte fordern Register für sexuellen Missbrauch an Kindern

Nicht ganz alltäglich, aber beinahe: An jedem vierten Tag des vergangenen Jahres wurde in der Aufnahme der Kinderklinik im Zentralkrankenhaus St. Jürgenstraße ein Kind behandelt, das sexuell missbraucht wurde oder dessen Zustand einen solchen Verdacht sehr nahe legte.

Oft sind dabei schon die Umstände der ersten Begegnung zwischen Arzt und Kind schwierig: „Sie haben vielleicht grade einen Patienten mit einer Hirnhautentzündung behandelt, das Wartezimmer in der Notaufnahme ist voll und dann müssen sie plötzlich umschalten. Da steht eine Mutter, die sagt, ihr Kind sei sexuell missbraucht worden.“ So schildert Thomas Schulz-Hissnauer, Kinderarzt und Psychiater in der Hess-Kinderklinik am St. Jürgen-Krankenhaus eine typische Situation. Gemeinsam mit Kollegen will er für solche Fälle jetzt verbindliche Richtlinien entwickeln, nach denen Arzt oder Ärztin vorgehen können. Zwar gebe es schon jetzt eine Art „technischen Leitfaden“, der aber müsse eingebettet sein in eine umfassende Versorgung der Patienten. „Die Akutbehandlung muss als Beginn der Therapie aufgefasst werden“.

Das ist das Ergebnis einer Tagung, die Schulz-Hissnauer gemeinsam mit der Psychologin Monika Busch sowie Rechtmedizinern und Ärztinnen aus der Frauenklinik durchgeführt hat. Befragungen müssen laut Monika Busch so durchgeführt werden, dass eine weitere vielleicht überflüssig wird. Vor allem aber muss die Untersuchung „im Tempo des Kindes stattfinden“.

Keine Narkose gegen den Willen des Kindes, keine Untersuchungen, wenn der mutmaßlich misshandelte Patient nicht bereit dafür ist. Das Kind darf bei der Untersuchung nicht wieder eine Szene erleben, in der es nicht Nein sagen kann. „Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht“, erklärt Kinderarzt Schulz-Hissnauer, denn einerseits versuche man zwar als Arzt, „eine Situation schaffen, die für das Kind zuträglich ist, muss aber gleichzeitig auch gerichtsfeste Befunde erheben.“ Auch dafür können die Richtlinien von großer Bedeutung sein. Nach rund 18 Stunden, so Schulz, finden sie am Körper des Kindes fast keine Spuren mehr, sofern es nicht Verletzungen davongetragen hat. Dafür können Kleidung und Bettwäsche noch Tage später wichtige Aufschlüsse liefern. Ein Arzt, der darüber informiert ist, kann dem Kind Untersuchungen ersparen und den Gerichten wichtiges Material zur Verfügung stellen.

Insgesamt 93 Kinder, hauptsächlich Mädchen, im Alter von drei Monaten bis zu 18 Jahren sind im St. Jürgen-Krankenhaus im letzten Jahr in die Patienten-Datei aufgenommen worden. Ein beträchtlicher Teil wird in der Klinik vorgestellt, nachdem bei der Kripo Anzeige erstattet wurde. „Oft aber“, so Psychologin Monika Busch, „gibt die Art der Verletzungen oder auch ein auffälliges Verhalten Anlass für den Verdacht auf Missbrauch“. Auch dann stehen für den Arzt prekäre Entscheidungen an. Im einen Fall schenkt er der „Unfallversion“ der begleitenden Erwachsenen Glauben, in andern Fällen muss er selbst Anzeige erstatten, um die Gefahr der Wiederholung zu vermeiden. So berichtet Schulz von einem Mädchen, das mit typischen Verletzungen eingeliefert wurde, angeblich aber in der Sandkiste gestürzt sei. Bei einem Blick in die interne Patientenkartei stellte sich heraus, dass die Familie zum dritten Mal eins ihrer Kinder mit solchen Verletzungen gebracht hatte.

Was dann tatsächlich aus den Kindern geworden ist – ob Miss-brauch stattgefunden hat, ob er verhandelt wurde, ob das Kind weiter psychologisch betreut wird – darüber weiß das Krankenhaus nichts. Da eigene Nachforschungen aus dem Klinikalltag heraus nicht möglich sind, plädiert Schulz für ein „Register“, in dem die Fälle samt ihrem Verlauf anonym gespeichert werden. Dafür müssten allerdings, ähnlich wie beim Krebs-Register, gesetzliche Grundlagen geschaffen werden. Elke Heyduck