„Lassen Sie es einfach raus“

Das Ende des Wohnens. Tagebuch eines niedertourigen Umzugs. Mit Emotionsturbo!

Ich habe den Keller inspiziert und erstmals so etwas wie Todessehnsucht gespürt

Liebes Tagebuch, der Sesshaftigkeit verdanken wir Kulturgüter wie den Pizza-Bringdienst, das Wasserklosett, den Gartenzwerg und die Stammkneipe. Sesshaftigkeit bedeutet Zivilisation, Fortschritt, Glück, während das Nichtsesshafte unweigerlich ins Chaos führt. Ich weiß Bescheid, noch eine Woche, dann steht der Möbelwagen vor der Tür.

1. Tag. Gestern den Versuch, zehn Jahrgänge des Spiegel in den Biotonnen der Nachbarschaft zu entsorgen, mutlos abgebrochen. Scheißgewissen.

2. Tag. Liebes Tagebuch, tief empfundener Lebensekel. Vermieter Binz kam, um mir seine Sicht der Renovierungsfrage darzulegen. Habe den Schmierlappen hochkant wie grobsilbig hinausgeworfen. Vorsichtshalber aber doch meinen Anwalt angerufen. Leider zu spät. Jetzt habe ich nicht nur die Renovierungskosten am Hals, sondern auch eine Beleidigungsklage. Vor Wut das Flurlicht mit einem Hausschuh zertrümmert.

3. Tag. Liebes Tagebuch, wo ist der Kaffee? Wo sind saubere Socken? Hätte gleich alle Kisten beschriften sollen. Leider sind auch die Filzer unauffindbar. Auf dem Weg ins Büro drei Ersatzunterhosen, eine Zahnbürste, zwei Jeans und sechs Flaschen Merlot gekauft. Mittags begonnen, zügig zu trinken. Später allen Mut zusammengenommen und die Spiegel-Jahrgänge vor dem SPD-Bezirksbüro abgeladen. Auf ein Müllproblem mehr oder weniger kommt’s da ja nicht mehr an. Später Übelkeit und Verlust zweier Schneidezähne, als ich auf dem lichtlosen Flur über meine Hans-Henny-Jahn-Gesamtausgabe gestolpert bin.

4. Tag. Beim Zahnarzt. Im Wartezimmer das Horoskop der Zeitschrift Freundin gelesen: „Das Emotionsturbo des Schützen läuft auf Hochtouren. Zeigen Sie, was in Ihnen vorgeht, lassen Sie’s einfach mal raus.“ Sofort mit Weinkrämpfen zusammengebrochen. Man injizierte ein Beruhigungsmittel und riet zu absoluter Ruhe. Wie denn? Noch vier Tage bis zum Umzug.

5. Tag. Im Schreibtisch kompromittierendes Material gehoben, das ich längst vernichtet glaubte. Sechs Pornohefte, meine halbfertige Doktorarbeit, eine Autogrammkarte von Uschi Glas mit Widmung und den Abschiedsgruß der schönen Gisela: „Das war’s, du Arsch!“ Anschließend schwere Melancholie und mehr Merlot.

6. Tag. Unter dem Brotkasten ein Dutzend dicker Maden. Alle mausetot. Wahrscheinlich ist ihnen mein Reisepass nicht bekommen, den ich im vergangenen Sommer an der slowenischen Grenze so schmerzlich vermisste. Er sieht ziemlich unappetitlich aus. Schwamm drüber, ist sowieso abgelaufen. Genau wie das Schollenfilet „Alaska“ im Packeis des Kühlschranks. Um das Entsorgungsgeld zu sparen, taufte ich das Ensemble „Kulturstadt Hannover“, signierte es mit HA Schult und stellte es vor dem Rathaus ab.

7. Tag. Den Keller inspiziert und erstmals so etwas wie Todessehnsucht gespürt. Was bleibt von uns außer Müll und ein paar Löchern in der Wand? Ein Satz im Protokoll der Mieterversammlung. Punkt drei: „Lärmbelästigung durch Herrn Quasthoff“. Der Rest vergessen, verweht. Perdu, wie die letzte tote Motte auf der Fensterbank, die gleich mit einem leisen Slurp im Staubsauger verschwinden wird. PS: Liebes Tagebuch, findest du, ich werde dünnhäutig?

Umzugstag. Seit fünf Tagen nicht mehr geschlafen, seit drei Tagen nicht mehr geduscht. Versuche, seit einer Stunde Mettbrötchen mit der bloßen Hand zu schmieren, weil ich vergessen habe, wo die Messer … Liebes Tagebuch, hörst du mir überhaupt noch … He, Sie können mir doch nicht einfach mein Tagebuch … Ich bin Privatpatient, bitte, nicht das Tage … Psst, Herr Doktor, wussten Sie, dass wir der Sesshaftigkeit … MICHAEL QUASTHOFF