: Siedler und Einheimische
Die Deutschen werden durch ein Zuwanderungsgesetz nicht offener, wenn sie weiterhin die Ausgangssituation ignorieren: Sie haben vor allem bei der Integration bisher versagt
Eine groteske Situation: Deutschland, einst blühendes Industrieland und Wirtschaftsmotor Europas, ist Schlusslicht in Europa – und das nicht nur bei Innovationen, Wirtschaftswachstum und Arbeitslosigkeit. Das Land vergreist, die Bevölkerung schrumpft, Fachkräfte wandern ab, man tut sich schwer im Wettbewerb um die hellsten Köpfe. In einer solchen Situation leistet man sich eine Posse um das Thema Zuwanderung.
Deutschland ist in dieser Verfassung nicht zukunftsfähig. Lebensstandard und sozialer Frieden stehen auf dem Spiel. Ein Teil der Deutschen handelt bei diesem Thema reflexartig. Den konservativen Politikern kann man an dem Gesicht ablesen, welche Abneigung sie gegen Zuwanderung haben. Zuwanderung wird wohl oder übel in Kauf genommen, weil es anders nicht geht. Auch wenn man in den nächsten Jahrzehnten händeringend Menschen suchen wird, die nach Deutschland kommen wollen, man spricht doch lieber von Zuwanderungsbegrenzung. Man bemüht die Sprache, um die Wirklichkeit zu belügen. Spendabel möchte man sich zeigen und wünscht sich einen gläsernen Einwanderer, in dessen Gefäß man deutsches Blut spritzen kann. So könnte man sich leichter für ihn erwärmen. Doch den gibt es nicht.
Das beschädigte deutsche Nationalbewusstsein führt zu seltsamen Wucherungen, wenn es um Themen wie Integration von Ausländern und um Vorstellungen vom Anderssein geht. Deutschsein ist ein Unsicherheitsfaktor. Als einzige Nation auf der Welt müssen Deutsche lange kontroverse Debatten darüber führen, ob sie stolz auf ihre Identität sein dürfen, ob sie sich schämen, Vorbilder für andere sind oder doch eher Schreckgespenster. Die Nation agiert im deutschen Kontext als unheimlicher Geist, der jeden um den Schlaf bringt, der an sie denkt.
Das tragischerweise ideale Pendant zu dieser verunsicherten deutschen Identität ist der türkische Einwanderer. Nichts war irreführender als das Bild des verschüchterten Gastarbeiters, der Solidaritätsreflexe bei den Gutmeinenden auslöst. Die Türken sind von der Mentalität her Siedler, die sich wenig um die Identitätsängste der Deutschen kümmern. Sie haben ja ihre eigene Identität, auf die sie zweifellos und für den deutschen Geschmack oft zu unkritisch stolz sind. Sie kamen als so genannte Gäste und haben sich niedergelassen. Es ist immer eine Unverfrorenheit, wenn sich der Gast ungefragt niederlässt. Die Sorgen und Nöte der Deutschen sind ihnen schnuppe.
Der Aufbau der eigenen Existenz vollzieht sich fast wie in einem unbewohnten Gebiet. Man besetzt den Raum und macht sich heimisch. Das ist auch eine Art von Integration. Aber etwas ganz anderes als das, was sich die meisten Deutschen darunter vorstellen. Demnach müsste sich der Zuwanderer um die Kultur und die Eigenheiten der Einheimischen kümmern. Er müsste mit ihnen kommunizieren, er müsste ihnen tagtäglich beweisen, dass von ihm keine Gefahr ausgeht. Der Siedler aber kommuniziert nur so lange und viel, wie es für seine Geschäfte vonnöten ist. Ansonsten möchte er in Ruhe gelassen werden. Er betrachtet die Deutschen nur als Gäste auf seinem Territorium. Er veranstaltet einen Tag der offenen Tür, an dem die Einheimischen sich bei ihm im Gebetshaus, dem innersten und heiligsten Raum seiner Identität, umsehen dürfen. Hier integrieren sich die Deutschen bei den Türken. Und das im eigenen Land. Natürlich kann so etwas Aggressionen auslösen. Doch wer trägt eigentlich die Verantwortung für diese brenzlige Situation?
Die Deutschen haben die Türken in Ruhe gelassen, über drei Jahrzehnte lang. Dann auf einmal zündeten sie ihre Häuser an und etablierten einen feindlichen Diskurs, der dem Eindringling klar machen sollte: „Hallo, wir sind auch noch da, und überhaupt, das ist unser Land und du bist nur ein Fremder, der seine Existenz der Toleranz und stellenweise auch der Dummheit unserer Behörden zu verdanken hat.“ Dieser Diskurs ist nun die Grundlage, auf der die so genannte Integration gelingen soll. Ein auf jeden Fall zum Scheitern verurteiltes Projekt. Denn der Gastarbeiter, den man nun integrieren will, nachdem man ihn Jahrzehnte lang ignorierte, existiert schon lange nicht mehr. Er hat sich in den Siedler verwandelt, der mit maximalem Desinteresse die schwerfälligen deutschen Debatten um Integration verfolgt. Aus seiner Sicht ist er längst angekommen in einem Land, dessen Menschen und Geschichte sich so lange vor ihm verborgen gehalten haben, bis er das Gefühl gewinnen konnte, das Land sei ein dünn besiedelter Landstrich, der nur auf Landnahme wartet. Das wird sich weder durch Gesetze noch durch öffentliche Debatten ändern.
Die Türken sind längst zu Hause in Deutschland, und zwar so vielfältig und undurchschaubar, wie sie sind. Sie spüren weder einen Germanisierungsbedarf noch zeigen sie Interessen an den Problemdebatten um Integration und Zuwanderung. Anders als die Deutschen sind sie ein Volk, das an hohe Arbeitslosenzahlen und chaotische Verhältnisse gewöhnt ist. Sie wissen sich zu helfen in Zeiten des Wandels, der Unsicherheit, der vagen Zukunftsaussichten. Der einheimischen Bevölkerung machen diese Qualitäten mehr Angst als der Ruf des Muezzins.
Siedler und Einheimische haben immer eine konfliktreiche Beziehung. Das liegt in der Natur der Sache. Wenn der eine kommt, muss der andere wenn auch nicht weichen, so doch zumindest zur Seite rücken. Der Staat müsste sich berufen fühlen diese Konflikte zu moderieren. Doch genau das Gegenteil von dem passiert: Die Politik und die öffentliche Meinung in Deutschland spiegeln nur die Angst wieder, die sich in den Köpfen der einheimischen Bevölkerung eingenistet hat.
Kann man von diesem fast toten Punkt aus weiterdenken? Vielleicht ist es sogar von Nutzen, wenn einige Illusionen jetzt auf der Strecke bleiben. Deutschland wird nicht offener und unverkrampfter durch ein Zuwanderungsgesetz, das die Ausgangssituation ignoriert und so tut, als könnte man die Uhr zurückdrehen und von vorne beginnen. Es gibt bereits einen zum großen Teil abgeschlossenen Einwanderungsprozess nach Deutschland. Dieser Prozess hat zu erheblichen Verwerfungen in der Gesellschaft geführt und die kulturelle Geografie Deutschlands nachhaltig verändert. Doch es fehlt bis heute ein Konsens über die Folgen und die zukünftigen Herausforderungen an das Selbstverständnis der Deutschen.
Ohne eine Aufarbeitung dieser Migrationserfahrung ist keine sichere Basis für die zukünftige Gestaltung der Zuwanderung gegeben. Deutschland braucht keine neuen Heloten, die man nach abgeleistetem Dienst wieder loszuwerden glaubt, wie in den Sechzigerjahren, sondern Menschen, die mit ihrer ganzen Würde, ihrem Anderssein und Einfallsreichtum etwas für das Gemeinwesen zu leisten im Stande sind. Doch vielleicht ist auch diese Vorstellung nur eine Illusion, die spätestens beim nächsten Integrationspalaver auf der Strecke bleiben wird. ZAFER ȘENOCAK
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