Hohe Kunst, lass mich leiden

■ Wenn KünstlerInnen die eigene Erfolglosigkeit stilisieren, sind sie „La Bohème“ – meint Dominik Neuner, der die Puccini-Oper ohne Milieukitsch und Liebesschmonzes inszenierte

Vier arme Künstler in der Pariser Dachstube – ein Dichter, ein Maler, ein Philosoph und ein Komponist: Sie hungern und sie frieren und sie verbrennen ihre Kunstwerke. Das ist das soziale Milieu in dem Giacomo Puccinis „La Bohème“ am Ende des letzten Jahrhunderts spielt. Eine zweite Ebene sagt uns: Ihr durchaus gewähltes Leben sind Selbstinszenierungen, mit denen sie sich die raue Wirklichkeit ihrer Erfolglosigkeit vom Halse schaffen wollen.

So sieht es Dominik Neuner, der Regisseur der neuen Inszenierung des 1896 entstandenen Werkes, auch als „notorischer Kitsch“ und Puccini als „Verdi des kleinen Mannes“ abgestempelt. Neuner verlegt die aufgesetzten Aktivitäten ihrer Ausgelassenheit in die fünfziger Jahre (Bühne von Hans Dieter Schal) – „macht kaputt, was Euch kaputt macht“ steht im vierten Akt an der Wand eines Studios – führt uns „die Jungs“, wie er im Interview sagte, gnadenlos vor in ihrer Selbstverliebtheit, in der Pflege ihrer Attitude, und vor allem in ihrer pubertären Unfähigkeit, Frauen zu begreifen. Sowohl die lebenslustige Musette, die während ihrer Liebe zu Marcello in einem Etablissement landet, als auch die lungenkranke Mimi sind Opfer.

Folgerichtig gibt es auch keine Liebesgeschichte bei Neuner und schon gar nicht eine herzergreifende. Neuner entfernt sich mit durchgehend genauen Akzenten vom Genre- und Milieukitsch, der die Aufführungstradition gerade dieser Oper so verheerend geprägt hat. Rodolfo bejammert und beweint sich nur selbst – so schluchzt er am Ende über einem Polaroidfoto, während zunächst unbemerkt von allen Mimi stirbt.

Größe haben die beiden Frauen nur durch sich selbst und die ist deutlich und stark gezeichnet. Musette schlägt sich exaltiert durchs Leben und wächst angesichts von Mimis Tod zu einer ergreifenden ernsthaften Persönlichkeit heran, was man von den Männern nicht sagen kann. Und Mimi hat eine ruhige Selbstsicherheit in sich, sie, die nur Blumen stickt, während Rodolfo seine Sehnsucht nach hohen Zielen der Kunst pathetisch vor sich her schiebt.

So eine Konzeption steht und fällt mit den DarstellerInnen: Allen voran ist hier Marion Costa als Mimi zu nennen, die an diesem Abend allen Ansprüchen dieser großen Partie gerecht wurde. Berückende Pianotöne und blühende Kantilenen, als sei die Mimi für sie geschrieben. Das gilt auch für Tomislav Muzek als Rodolfo, der über eine wunderbar schmelzende, technisch sichere Stimme verfügt. Furios Iris Kupke als Musette, die in dieser einen Rolle enorm viele Persönlichkeitsaspekte zeigen kann. Und Alan Cemore als Marcello, Loren Lang als Schaunard, Bartholomeus Driessen als Colline traten keinen Moment in einen füllenden Hintergrund, sondern bildeten ein lebhaftes Fundament der ebenso einfachen wie überquellenden Ereignisse.

Stefan Klingele hielt den großen, stets in viele kleine Teile auseinanderstrebenden Orchesterapparat vorzüglich zusammen, ließ die schwierige, weil so voll an Ritardandi und Accellerandi (langsamer und schneller werden), Partitur überlegen atmen. Vielleicht könnte man sich inbezug auf diese Inszenierung so manches greller und rhythmisch bissiger vorstellen. Ein dickes Lob soll an diesem Abend ganz besonders dem Chor gelten, weil es die letzte Einstudierung des Chorleiters Theo Wiedebusch war, der in Bremen auf 29 Jahre und 180 Einstudierungen zurückblicken kann. Er wurde wie das Ensemble an diesem Abend heftig gefeiert – wir kommen darauf zurück.

Ute Schalz-Laurenze

Nächste Termine: 13., 20., 29. 4.