Stilles Gedenken an den Krieg

Die Bewohner Sarajevos gehen nachdenklich mit dem zehnten Jahrestag des Beginns des Krieges in Bosnien und Herzegowina um. Die Helden von einst ziehen ihre persönliche Bilanz im engsten Freundeskreis. Und die Jugend blickt zuallererst nach vorn

aus Sarajevo ERICH RATHFELDER

Alle schwiegen. Die meisten Besucher des „Obala Meeting Points“ in Sarajevo rangen am Samstagabend um Fassung, als die Vorstellung in dem modernsten Kino der Stadt zu Ende war. Die Dokumentation aus der Zeit vor zehn Jahren wühlte das Publikum auf. Der frühere bosnische Nachrichtensprecher und Fernsehmoderator Senad Hadzifeijzović führte durch das Programm und moderierte live die Filmausschnitte von damals. Live-Kommentar und Dokumentation vermischten sich, die Bilder von den Friedensdemonstrationen, den ersten Schüssen, den ersten Toten, der brennenden Stadt. Dazwischen Ausschnitte seiner Kommentare und Interviews. So machte er die Realität von damals wieder erlebbar.

Das ging dem Publikum unter die Haut. In einem Interview vom 14. April 1992 versuchte der Journalist den heute als mutmaßlichen Kriegsverbrecher gesuchten Radovan Karadžić darauf festzulegen, zu verhandeln. Karadžić blockte ab. Wie einer seiner Militärs. Der leugnete die Schüsse auf Sarajevo.

Das am 29. Mai 1992 aufgefangene Gespräch zwischen dem Oberkommandierenden der serbisch-bosnischen Armee Ratko Mladić und Oberst Mirko Vuksanović ist deshalb von großem dokumentarischen Wert. Mladić befiehlt, die Altstadt und das Präsidentschaftsgebäude zu beschießen. „Habt ihr das Präsidentschaftsgebäude beschossen?“ „Nein, aber in zwei oder drei Minuten“, antwortet der Offizier. „Die Altstadt habt ihr schon getroffen?“ „Ja, haben wir.“

Selbst Senad Pecanin, Chefredakteur der Wochenzeitung Dani, war nach der Vorstellung wie erschlagen. „Das geht alles zu nah.“ Schweigend standen sie zusammen: Zdravko Grebo, Juraprofessor und Leiter des im Krieg legendären Radios „Sid“ (Mauer), Theaterleute, Journalisten, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Jakub Finci, Mehmed Halilović, Exchefredakteur der Tageszeitung Oslobodjenje, und Jovan Divjak, Serbe und Vize-Kommandeur der bosnischen Armee, der Sarajevo gegen Karadžić und Mladic verteidigt hat. „Hass und chauvinistische Revanche, das sind die falschen Gefühle“, sagte Pecanin schließlich. Bitterkeit bliebe nicht wegen Karadžić oder Milošević. Die halbherzigen Reaktionen der „zivilisierten Welt“ aber, die schmerzten. Bis heute. Die internationalen Institutionen in Bosnien wollen die Vergangenheit ruhen lassen und „in die Zukunft blicken“.

Unter diesem Druck hielt sich das offizielle Sarajevo mit Gedenkfeiern zurück. Doch Dani wollte diese Position nicht akzeptieren und richtete die Veranstaltung aus. Man kann die Vergangenheit nicht ausblenden, konterte der Historiker Ivan Lovrenović in einem Leitartikel, „eine Zukunft ohne die Bewältigung der Vergangenheit gibt es nicht.“ Der Wochenzeitung wurden Unterstützungsgelder gestrichen.

Die Kämpfer von damals trafen sich anderswo. In seinem eigenen Café, dem Stefanel, saß Dragan Vikić, Chef der ehemaligen Spezialpolizei, mit Freunden zusammen. Genau vor zehn Jahren besetzte der zum Kriegsheld aufgestiegene ehemalige Karatekämpfer die öffentlichen Gebäude und hinderte die serbischen Freischärler daran, ins Zentrum vorzustoßen. Aufhebens davon macht der heute als Polizeiberater tätige Katholik nicht. Auch nicht davon, dass er als Verteidiger des multikulturellen Sarajevo mehrmals von kroatischen Nationalisten bedroht wurde.

Um die alten Helden ist es still geworden. Die Stadtverwaltung verzichtete auf Flaggen. Viele, die im Krieg geflohen waren, nutzten das Datum zum Besuch. Auch Serben waren darunter, viele alteingesessene Serben sind ganz zurückgekommen, ihr Bevölkerungsanteil soll wieder um die zehn Prozent betragen.

Doch das Stadtbild wird beherrscht von einer Jugend, die den Krieg höchstens als Kindheitserinnerung hat. Im Musikcafé Sloga wurde am Samstagabend zwar die Musik der Gruppen Bjielo Dugme, Indexi und Merlin aufgelegt, die in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Sarajevo-Rock im alten Jugoslawien berühmt machten. Doch für die 19-jährige Studentin Samira und ihre Freunde sind das keine Idole mehr.

„Haut weg den Scheiß“, könnte die Haltung dieser Jugendlichen frei übersetzt werden. Für Samira ist Nationalismus etwas völlig Anachronistisches. Allerdings stand sie am Freitag auf dem Platz vor der Oper, als Danis Tanuvic, der mit einem Oskar auszeichnete Regisseur des Streifens „Niemandsland“, in Sarajevo eintraf. Etwas stolz ist sie auf den 33-jährigen Bosnier schon. Und am Ende skandierten Tausende von jungen Menschen „Bosna“.