Mitten unter den Mittigen

Erschlagend ernsthafte Liebe zu Gott, zu Mädchen und zu Deutschland: Xavier Naidoo zeigte bei seinem Konzert im ColumbiaFritz, dass Pathos bei ihm kein Druckmittel für politische Ziele ist, sondern eine Geste des Entertainments

von HARALD FRICKE

„Fragt der da hinten etwa auch nach Karten?“, fragt das Mädchen, das weiter vorne am ColumbiaFritz nach Karten fürs Konzert fragt. Große Chancen haben beide nicht. Allzu begehrt ist Xavier Naidoo, seine Doppel-CD „Zwischenspiel/Alles für den Herrn“ ist bereits hoch in die Charts gestiegen, die Specials in Petra, Marie Claire oder Musikexpress laufen wie geschmiert. Ein paar Medien waren zwar misstrauisch, bei „Intro“ meldete ein Redakteur Rechtsrock-Alarm, weil ihm Naidoo in den Texten zu autoritär von religiösen Visionen spricht und vom „Himmel über Deutschland“ singt.

Doch die Zielgruppe ist davon unangetastet geblieben: Noch immer ist Xavier Naidoo der Lieblingssänger für die Azubis und kommenden Dienstleister der Republik. Postler, Bahnangestellte, Friseusen, Bundis – er nimmt sie alle mit, auf den Straßen des Herrn. Deshalb ist auch die Clubtour seit Wochen ausverkauft, die Festhallen- und Freilichtbühnen-Gigs werden ab September nachgereicht.

Als Warm-up für Berlin hat sich Naidoo eine Vorband namens Kosho mitgebracht. Da steht nun ein nicht mehr ganz junger Mann im Anzug auf der Bühne, der an den frühen Jürgen Drews erinnert und Acid Jazz spielt, der vor zehn Jahren in Londoner Clubs hätte laufen können. Auch er gehört zum Inner Circle der Söhne Mannheims, aus jener Stadt, die sich seit Joy Fleming vom muffigen GI-Stützpunkt zum Soul-Headquarter gewandelt hat. Die Arbeitsteilung funktioniert: Eine halbe Stunde hat Kosho Zeit, um dem Berliner Publikum zweistimmige Refrains beizubringen, während sich Naidoo backstage noch für den Abend einraucht.

Überhaupt sind Mitmachen und Euphorie bei Menschen um die zwanzig wieder sehr in Mode. Schon mit der ersten Zeile von Naidoos „Bevor du gehst“ ist der Kreischpegel lauter als sein Begleitsound. Dabei hat der Sänger erst ein einziges „Sieh mir noch einmal in die Augen, Baby“ von sich gegeben. Das ist verblüffend, auch für Naidoo, der findet, dass „Berlin immer wieder geil ist“, aber heute wohl nicht mit dermaßen viel Geilheit gerechnet hat. Sonst wäre er sicher in seinem anderen Bühnen-Outfit erschienen – mehr Richtung Herrenausstatter und nicht die Jeans-Sweatshirt-Kombination, in der er ziemlich bullig wirkt, aber auch angenehm proletarisch und extrem hard working.

Entsprechend ist die Performance ganz auf den Sänger zugeschnitten. Die Musiker sind rührig, lassen Naidoo aber reichlich Platz, wenn er sich zurück ans Mikrofon wuchtet. Ein Wechselspiel zwischen Hintergrund und Vordergrund gibt es kaum, das macht den Abend auf Dauer ein wenig eintönig: Immer im roten Bereich, wie bei einem Metal-Konzert werden Rockismen, Balladen und Soul zu einem gigantischen Soundschwall, der da – voll fett – über die Leute kommt und von ihnen mit Rock-am-Ring-kompatiblen Chören beantwortet wird. Super, na klar, und Wahnsinn auch, aber doch irgendwie durchsichtig – eine eingeschworene Gemeinde, die in den Texten ihre eigenen verbindlichen Werte gespiegelt bekommt. Ich bin einer von euch, scheint Naidoo immerfort zu sagen, das hat ihn mitten unter den Mittigen nach oben gebracht.

Manchmal sind es auch einfache Erklärungen. Deshalb legt er vor dem Gospel-Rap „Wenn ich schon Kinder hätte“ eine Pause ein, um sich für den Song zu verteidigen. Er wolle mit seinen Statements niemandem auf den Schlips treten, sagt er dann, und dass es ihn doch nur nervt, wenn an der Supermarktkasse lauter ungesunde Süßigkeiten auf Kinderaugenhöhe angeboten werden. Das finden alle richtig, und man wundert sich über so viel Vernunft bei Leuten, die zu Hause ständig Twix und KitKat knabbern. Aber auch das kennt man aus der Kirche: Wer würde schon alles wörtlich nehmen, was der Pastor sagt? Trotzdem ist es der Wille zu Kraft und Verausgabung, den Naidoo in seiner Show inszeniert, und die unentwegte Anstrengung passt zu der erschlagenden Ernsthaftigkeit, mit der er seine Liebe zu Gott, zu Mädchen und zu Deutschland bekennt. Darin kommt er dem Kitschfaktor von R.Kelly nahe, dessen übertriebener Patriotismus, mit dem er zuletzt US-Wimpel schwenkte, als pure Egozentrik durchging. Auch bei Naidoo ist Pathos kein Druckmittel für politische Ziele, sondern eine Geste des Entertainments.

Zugleich könnten seine Zeilen über Gefangene, die wieder frei wären, wenn man nur die neue Route einschlagen würde, auch aus der gefühlslinken Emo-Propaganda von Ton Steine Scherben stammen – war nicht schon Rio Reiser „König von Deutschland“? Rechtsdrehend ist an Naidoos Predigten nichts, und der vermeintliche religiöse Fanatismus hat mehr von einem Fantum, dessen Weisheiten wie Graffitis in Poesiealbumform unters Volk gebracht werden. Als die Band gegen Schluss „Abschied nehmen“ spielt, weiß man, wer er wirklich ist – so viel „Purple Rain“ war seit Prince jedenfalls selten.