... und raus bist du!
: taz-Debatte „Berlin nach Pisa“ (Teil 1)

Aussortiert: Migrantenkinder

Nicht erst seit der Pisa-Studie ist klar: Von Chancengleichheit kann im deutschen Bildungssystem kaum die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Kinder aus armen und eingewanderten Familien haben es extrem schwer. In Berlin besuchen sie vor allem Kitas und Grundschulen in der Innenstadt. Hier wird über fehlende Deutschkenntnisse, mangelnde Sprachfähigkeiten und geringe soziale Kompetenz der Kids sowie ein entsprechend niedriges Unterrichtsniveau geklagt. Die Folge: Viele deutsche Eltern und auch die aus der nichtdeutschen Mittelschicht meiden jene Schulen, die soziale Entmischung in den Quartieren schreitet voran, die Situation an den Bildungseinrichtungen wird immer schwieriger. Was tun mit den Kitas und Schulen in der Innenstadt? Wie können sie allen Kindern gleiche Chancen eröffnen? Diesen Fragen wird sich ab heute – immer dienstags – eine Debattenserie der taz stellen. Heute: Safter Cinar

Die Pisa-Ergebnisse sollten nicht überraschen. Denn das Schulsystem der Bundesrepublik ist wie in kaum einem anderen Industrieland auf – soziale – Selektion ausgerichtet. Diese Tatsache war nicht nur bekannt, sondern sie ist auch gewollt. Und sie trifft seit den 80er-Jahren in Berlin vor allem Kinder mit Migrationshintergrund.

Das ist längst auch optisch wahrnehmbar: Inzwischen bevölkern überwiegend Kinder und Jugendliche mit dunkler Haar- und Hautfarbe die Haupt- und Sonderschulen der Stadt. Dies ist weniger ein Ergebnis ihrer ethnischen, sondern ihrer sozialen Herkunft. Denn die meisten dieser Kinder stammen aus Arbeiterfamilien.

Staaten mit den besten Ergebnissen bei der Pisa-Studie sind entweder ausgewiesene Einwanderungsländer wie Kanada oder Staaten mit einem vergleichbaren Migrantenanteil wie Schweden, die aber anders mit ihren Minderheiten umgehen – auch in Kindergarten und Schule. Das bundesdeutsche Bildungssystem aber bietet Kindern mit Migrationshintergrund keine Chancengleichheit. Bei der Integration hat es versagt.

Richtig ist sicherlich, dass gewisse Faktoren, die von den Einwanderern selbst bestimmt werden – wie konzentrierte Wohngebiete, Ehegattenzuzug aus der alten Heimat und Mediengewohnheiten – Probleme schaffen. Nur: Die Wahl von Wohnort, Ehepartner und Fernsehsender sind nach dem Grundgesetz frei – und diese Grundrechte in Frage zu stellen, ist kontraproduktiv. Zudem verhalten sich Migranten in anderen Ländern ähnlich. Das muss die Politik akzeptieren.

Gefragt ist ein Paradigmenwechsel: Anstelle der nebulösen Integrationspolitik muss endlich eine klare Einwanderungspolitik treten, die die Gleichstellung der Bevölkerung nicht deutscher Herkunft zum Ziel hat. Dazu gehört auch, dass Politik und Gesellschaft wohnungs- und bildungspolitische Konsequenzen aus der Einwanderung ziehen:

l Berlin muss akzeptieren, dass bestimmte Bezirke zu „Einwanderungsbezirken“ geworden sind. Ihre wohnliche und schulische Attraktivität muss gesteigert werden, denn eine Erweiterung der sozialen Mischung kann nur durch die Förderung des Zuzugs erzielt werden. Zuzugsverbote oder Vertreibung nützen nichts.

l Für nachziehende Ehegatten, die meist zum Elternteil werden, müssen auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene, staatlich finanzierte Sprach- und Sozialkurse angeboten werden. Ein gutes Beispiel dafür sind die von den Volkshochschulen an Grundschulen angebotenen „Mütterkurse“, die sehr erfolgreich sind.

l Sowohl die Lehrer- als auch die Erzieheraus- und -fortbildung müssen den Anforderungen einer multikulturellen Gesellschaft entsprechend umgestaltet werden.

l Im gesamten Bildungssystem muss endlich akzeptiert werden, dass die Förderung der Muttersprache und Kultur keine Belastung, sondern eine Entlastung der Kinder darstellt, weil es auf ihre vorhandenen Kompetenzen zurückgreift, den Eltern die berechtigten Entfremdungsängste nimmt und somit integrationsfördernd ist.

l Alle diskriminierenden Maßnahmen in den Schulen, wie zum Beispiel Quotenregelungen, Zurückstellung wegen Deutsch-Defiziten, Bussing und ähnliches sind abzulehnen. Erwägen aber kann man einen neuen Zuschnitt der Schuleinzugsbereiche sowie einen freiwilligen Besuch von Schulen außerhalb dieser Bereiche.

Natürlich müssen die Migranten sich um Aneignung einer guten Sprach- und Sozialkompetenz bemühen, besonders bei ihren Kindern. Aber die Politik muss hierfür die Rahmenbedingungen setzen. Das das hat sie versäumt, auch beim neuen Zuwanderungsgesetz.

Die Pisa-Studie hat die Schwächen unseres Bildungssystems aufgedeckt: Das Grundproblem ist seine Ausrichtung auf soziale Selektion. Erst wenn hier Abhilfe erfolgt, werden migrantenspezifische Maßnahmen greifen.

SAFTER ÇINAR, 56, ist Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB). 1983–1991 war er stellvertretender Vorsitzender der GEW Berlin. Nächste Woche: Bleiben oder wegziehen? Schule ich mein Kind in der Innenstadt ein?siehe SEITE 23