OSTMITTELEUROPA: AUCH IN UNGARN IST DIE LINKE STABILER ALS DIE RECHTE
: Mit Altfunktionären in die EU

Pünktlich alle vier Jahre zum Wahltag bebte es im letzten Jahrzehnt in Ungarn. Die jeweils regierenden Parteien wurden unter einem Erdrutsch begraben. So erging es 1994 dem Demokratischen Forum, 1998 den Sozialisten. Nach der ersten Runde der Parlamentswahlen 2002 zeigt die Wahlkatastrophenskala kaum einen Ausschlag. Die Hauptkontrahenten – Sozialisten und die Rechtskonservativen der Fidesz-Koalition – liegen nahezu gleichauf. Das ungarische Parteiensystem scheint sich auf der europäischen Achse Mitte-links gegen Mitte-rechts einzupendeln.

Diese Einteilung entspricht nicht mehr der traditionellen ungarischen Polarisierung zwischen einem nationalistisch-populistischen und einem europäisch-liberalen Lager. Denn trotz ihrer Demagogie streben auch die Fidesz-Führer nach Europa. Das entspricht ihrer Vorstellung von einer übergreifenden Staatsräson.

Dennoch ist weder in Ungarn noch in den anderen EU-Beitrittskandidaten Ostmitteleuropas ein Ende des Parteibildungsprozesses absehbar – wobei die zu erwartenden Konvulsionen sich allesamt aufseiten des rechten Spektrums abspielen werden. Trotz vieler Anläufe ist es in keinem dieser Länder gelungen, eine christlich-konservative Einheitspartei (mit sozialen Einsprengseln) auf die Beine zu stellen. Das Führungspersonal aus den Zeiten der demokratischen Opposition vor 1989 hat sich für diese Aufgabe als zu schwach erwiesen. Entscheidend aber ist, dass sich die diversen konservativen Neugründungen bzw. Wiederbelebungen in der Gesellschaft nicht verwurzeln konnten. Es fehlt das tief gestaffelte Organisationssystem, das Netz, das den konservativen und christlichen Parteien im Westen Europas Halt verleiht.

Ganz anders die Lage aufseiten der linken Mitte. Die gewandelten Realsozialisten gebieten in Polen und Ungarn über ihre traditionellen gesellschaftlichen „Transmissionen“. Ihre Kaderdecke schrumpfte, aber die Zahl der Aktivisten, wenngleich im Rentenalter zunehmend, reicht für eine systematische Parteiarbeit. Da die neu gebackenen Sozialdemokraten zudem ihren Wählern eine ökonomische Schocktherapie verabreichten, stellten viele junge Technokraten ihre neoliberalen Talente zur Verfügung. Nur in Tschechien klappte das realsozialistische Wendemanöver nicht. Hier reüssierte gegenüber der Beton gebliebenen Kommunistischen Partei die wieder gegründete Sozialdemokratie, die allerdings nicht wenige Staatsdiener aus realsozialistischen Zeiten aufsaugte.

So führen vielfach die Funktionäre des alten sozialistischen Lagers ihre Länder gen Westen, ins Reich des vormaligen Klassengegners. Wenn der Trend anhält, auch in Ungarn. CHRISTIAN SEMLER