Der Bürger als Schreck

Hardt-Waltherr Hämer ist wohl der Einzige in der Stadt, der sich auch achtzigjährig noch auf die Barrikaden begibt – und dafür auch noch von seinen Gegnern auf der anderen Seite geehrt wird

Als Erfinder der behutsamen Stadterneuerung ist Hämer eine LegendeSchon im Gefangenenlager hat er zu allererst einen Dorfrat wählen lassen

von UWE RADA

Nun reklamieren ihn alle für sich. Gerwin Zohlen, der selbst ernannte Feingeist unter den hiesigen Urbanisten, würdigt ihn als „Westberliner Urgestein“ und gratuliert: „Glückwunsch im Kampf.“ Peter Strieder, der im zweiten Wahlgang gewählte Bausenator, nennt ihn einen „Impulsgeber für wichtige politische Veränderungen in Berlin“. Sie reklamieren, als wäre Hardt-Waltherr Hämer einer von ihnen. So pietätlos können Geburtstage sein. Zumal solch runde wie ein Achtzigster.

Wen reklamiert Hardt-Waltherr Hämer, der derart Geehrte, für sich? Wer hat dem Impulsgeber die Impulse gegeben? Wer gab dem Architekten und Stadtplaner, dem Begründer der Topografie des Terrors und dem ehemaligen Vizepräsidenten der Akademie der Künste jene Energie, die ihn, der am Samstag achtzig wird, nun um den Erhalt des Studentendorfes Schlachtensee kämpfen lässt?

Namentlich wäre da wohl der amerikanische Soziologe Richard Sennett zu nennen. Dessen stadtphilosophisches Opus „Civitas“ führte Hämer mit seiner immerlauten Forderung nach einem „Stadtvertrag“ gewissermaßen in die Berliner Debatte ein. War Sennett mit seiner zivilen Idee der Stadtgesellschaft der Theoretiker, war Hämer derjenige, der sich anschickte, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Stadt, das war das Credo beider, ist weit mehr als die Summe ihrer Bauten. Stadt ist vor allem der Ort, an dem Menschen der unterschiedlichsten Herkunft zusammentreffen – und gezwungen sind, miteinander zu leben. Und es war das ureigene Anliegen beider, des wortgewandten Theoretikers wie des wortgewaltigen Praktikers, dass dieses Zusammenleben unter menschenwürdigen Verhältnissen stattfinden sollte.

Wer heute durch die Straßen Berlins geht, wird kaum ahnen, dass viele der Orte, die er da durchschreitet, mehr mit Hardt-Waltherr Hämer zu tun haben als mit den acht Bausenatoren, die der 1922 in Lünen geborene Sohn eines Architekten hat kommen und gehen sehen. Vor dem Anhalter Bahnhof verhinderte er den Durchstich der Kochstraße durch das ehemalige Prinz-Albrecht-Gelände und legte so in den Achtzigerjahren den Grundstein für die spätere Topografie des Terrors. In der Akademie der Künste setzte er sich für eine Vereinigung der beiden Akademien Ost und West statt für eine Übernahme ein und machte sich vor allem unter den Westberlinern nicht nur Freunde.

Vor allem aber hat er in Charlottenburg und Kreuzberg zusammen mit Bewohnern und Studenten ganze Straßenzüge vor der bereits bereitstehenden Abrissbirne gerettet. „Kaputte Stadt retten!“ hieß der Leitruf, mit dem sich Ende der Siebzigerjahre die „Betroffenen“ der damals herrschenden Ideologie der Flächensanierung entgegenstellten, die ja nichts als ein Euphemismus für Totalabriss war.

Und sie hatten Erfolg. 1978 verpflichtete sich der Stobbe-Senat im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA) erstmals zur Repratur der Innenstadt. Die Regie übernahm für den Neubaubereich der Architekt Josef Paul Kleihues, die Altbau-IBA leitete fortan Hardt-Waltherr Hämer.

Hämer war es auch, der mit seiner Unermüdlichkeit dafür sorgte, dass das Abgeordnetenhaus nach dem Amtsantritt von Eberhard Diepgen die so genannten „zwölf Grundsätze der behutsamen Stadtereuerung“ beschloss – jenen „Stadtvertrag“ also, der die Bewohner als „Betroffene“ erstmals als gleichberechtigte Akteure im Sanierungsprozess anerkannte. Es waren diese Jahre, die Hämer schon zu Lebzeiten als „Erfinder der behutsamen Stadterneuerung“ in die Geschichte eingehen ließen.

Dieser Tage nun, in denen Bausenator Peter Strieder Hämer als Impulsgeber für sich reklamiert, ist die Altbausanierung längst gang und gäbe. Auch die „Kritische Rekonstruktion“, mit der Kleihues einst die südliche Friedrichstadt als innerstädtischen Wohnort neu definierte, ist heute, zum Beispiel zwischen den Linden und dem Checkpoint Charlie, gebaute Realität.

Dass Hämer aber nicht, wie zahlreiche seiner ehemaligen Mitstreiter zum urbanistischen Ästheten konvertierte, hat wohl damit zu tun, dass er das „behutsam“ in der Stadterneuerung nie nur als lästiges Beiwerk begriff, sondern vielmehr als Programm. Und das führte ihn nach der Wende auch nach Marzahn, wo er sich für die Erneuerung der Plattenbauten unter Einbeziehung ihrer Bewohner stark machte.

Umgekehrt ist Hämer aber auch nie zu einem Apologeten der Moderne geworden. Ästhetik und Soziales gehen bei ihm vielmehr ein dialektisches Verhältnis miteinander ein. Oder, wie es der Architekturkritiker Manfred Sack sagt: „Hämer hat im Ästhetischen eine soziale Kraft entdeckt und dem Sozialen einen ästhetischen Ausdruck gewünscht.“

Vor allem aber war Hämer ein Demokrat. Keiner von denen, die einmal in der Politik landen, sondern einer, der auch auf die Barrikaden geht, wenn es seiner Überzeugung entspricht. Demokratie, schreibt die Journalistin Susanne Kippenberger über „den Menschen“ Hardt-Waltherr Hämer, sei für ihn „von Anfang an eine ganz praktische Übung“ gewesen. Man kann es auch anders sagen. Demokratie, das war für Hämer nicht nur jener Begriff, in dem er die soziale Kraft des Ästhetischen und den ästhetischen Ausdruck des Sozialen zusammenführte. Demokratie war immer auch eine Aufforderung, sich einzumischen. Hämer selbst begann damit als er nach dem Krieg als junger „Bürgermeister“ im Gefangenenlager freie Wahlen vorbereitete, einen Dorfrat bildete und, wie er selbst sagt, gelernt hat, „was es heißt, demokratische Strukturen zu entwickeln“. Das Gefangenenlager als Schule der Stadtgesellschaft. Selten wird Zivilgesellschaft unter solch widrigen Umständen erprobt gewesen sein.

Später dann, da war er schon Architekt, kämpfte Hämer mit den Bewohnern von Ingolstadt für einen Theaterneubau, immer eingedenk seiner Überzeugung, dass es die Bewohner selbst sind, die eine Stadt erst ausmachen. „Nicht zufällig“, schreibt Susanne Kippenberger, „hat Hämer als Architekt lauter öffentliche Versammlungsräume gebaut: Kirche, Theater, Kino, Konzertsaal, Gymnasium, Stadthalle.“

Es ist dieses Einmischen, das Hämer schon heute zu einer Legende hat werden lassen. Ein Einmischen, das manchmal einem wahren Donnerwetter gleichkam. Alle haben es zu spüren bekommen: die Senatoren, die er kommen und gehen sah, die Investoren, auch seine Mitstreiter. Hämer kann manchmal stundenlang stillsitzen, doch dann steht er auf, ergreift das Wort mit lauter Stimme, nicht selten brüllt er auch und wedelt mit seinem Stock. Es ist das Polternde, das Hämer mit seinem heutigen Gegenspieler, dem Senatsbaudirektor Hans Stimmann gemeinsam hat. Und es ist die Fähigkeit zum Zuhören, die Hämer, der sich selbst als „Gruppenmensch“ bezeichnet, von seinem ehemaligen Mitstreiter so deutlich unterscheidet.

Peter Strieder, der achte Bausenator unter Hämer wird all das geahnt haben, gestern, in der Akademie der Künste, als er anlässlich der gestrigen Vorstellung von Manfred Sacks Buch sagte: „Wir sind hier nicht auf einer Geburtstagsfeier, sondern auf einer Buchpräsentation. Deshalb darf ich hier wohl reden!“

Auch Strieders Versicherung, die „zwölf Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung“ seien nach wie vor die Grundlage der rot-roten Baupolitik wirkten mehr als freundliches Reklamieren, denn als politische Überzeugung. Schließlich wurde ausgerechnet mit Rot-Rot jene öffentlich finanzierte Stadterneuerung zu Grabe getragen, als deren „Impulsgeber“ Strieder gestern den Jubilar feierte. Mehr noch: Selbst die Bürgerbeteiligung, die sich die SPD noch in den Achtzigerjahren auf die Fahnen geschrieben hat, stirbt derzeit scheibchenweise, zuletzt bei der Planung der Fischerinsel und der Neubebauung der Gertraudenstraße, deren Bewohner für Strieder und seinen Baudirektor keine Akteure, sondern nur noch ästhetische Hindernisse auf dem Weg zur guten, alten Stadt sind.

Doch Hämer wäre nicht Hämer, wüsste er nicht, dass am Ende dieser Epoche dennoch genau die übrig bleiben, die auch schon vor ihr da waren. Dass auch aus Hindernissen wieder Querulanten und aus Querulanten wieder Akteure werden können. Vielleicht setzt er sich deshalb mit solcher Verve für den Erhalt eines städtebaulichen Ensembles ein, das den meisten, zumal den Neuberlinern nicht einmal bekannt sein dürfte. Die Rede ist vom Studentendorf Schlachtensee, das Peter Strieder gerne etwas ironisch als „amerikanisches Museumsdorf“ bezeichnet, ganz ernsthaft dagegen immer noch zum Abriss vorgesehen hat.

Für Hardt-Waltherr Hämer freilich, den Bürger, der andere noch immer gerne aufschreckt, ist das Studentendorf mehr als eine moderne Ikone, die es zu erhalten gilt. Es ist ihm mit seinen Bewohnern aus aller Herren Länder schlicht ein urbaner Mikrokosmos, ein Stück soziale Stadt im besten Sinne des Wortes. Vielleicht ist er sich deshalb so sicher, wenn er Strieders Jubiläumswünsche damit beantwortet, dass die Bewohner schon zeigen werden, dass man auch ein Studentendorf retten kann.

Manfred Sack (Hg.): Hardt-Waltherr Hämer. Die Stadt im Kopf, Jovis-Velag, 256 Seiten, 24.80 Euro