Die dunkle Seite der Religion

Auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung diskutieren Experten über das Verhältnis von Glauben und Gewalt. Eine These: Religion heizt Konflikte nur an, wenn sie politisch instrumentalisiert wird

von PHILIPP GESSLER

Wenn arabischstämmige Studenten deutscher Universitäten mit Koranversen auf den Lippen mit Hilfe von Passagierflugzeugen in die Türme von Wolkenkratzern fliegen und so Tausende Menschen umbringen, wird das Gewaltpotenzial von Religion überdeutlich. Aber: Das Problem ist weit weg. Wenn orthodoxe Juden auf dem Kudamm von islamischen Jugendlichen angegriffen werden, wird jedoch deutlich, dass das Problem „Religionen und Gewalt“ auch hierzulande aktuell werden kann. Die Gretchenfrage lautet deshalb: Wie haltet ihr Frommen es mit der Gewalt in eurer Religion? Gehört sie dazu? Toleriert ihr sie oder fördert ihr sie gar?

Dieser Frage ging gestern die Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrer Zentrale am Tiergarten bei einer Tagung zum so schlichten wie brisanten Thema „Religionen und Gewalt“ nach. Zusammen mit der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, einer Forschungs- und Beratungsinstitution der Evangelischen Kirche zu religiösen Erscheinungen der heutigen Zeit, näherten sich Politologen und Theologen dieser „dunklen Seite“ des Glaubens, wie es immer wieder auf der Tagung hieß.

Ein zentrales Ergebnis: Die These des amerikanischen Politologen Samuel Huntington, wonach die Welt nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vor einer Zeit des Zusammenpralls der religiös fundierten Zivilisationen stehe, fand kaum Unterstützung: So betonte etwa der Politikwissenschaftler Volker Rittberger von der Universität Tübingen, dass „die Politisierung von Religionen und die Radikalisierung der Gläubigen“ zwar durchaus zu beobachten sei und zu Gewalt führen könne. Dem aber gingen weltweit in der Regel „wirtschaftliche Verelendung und soziale Diskriminierung ganzer Bevölkerungsschichten“ voraus: „Erst wenn sich die Schere zwischen Arm und Reich öffnet, wenn Modernisierungsgewinner und -verlierer klar sichtbar werden, erhalten religiöse Bewegungen Zulauf.“

Religion kann Rittberger zufolge deshalb nur dann Konflikte anheizen, wenn sie politisch instrumentalisiert werde. Das heißt: Wenn Mitglieder einer Konfliktpartei durch ihre Führer überzeugt würden, „für eine heilige Sache zu kämpfen“, wenn der Gegner im wahrsten Sinne des Wortes verteufelt werde und wenn diese Volksverführer über religiöse Institutionen mit ihren Gesellschaften „vernetzt sind“ – zum Beispiel über Wohlfahrtsorganisationen der Hamas oder die Koranschulen der Taliban.

Das bedeutet aber nicht, so hob etwa Hermann Häring, Theologe an der katholischen Universität im niederländischen Nijmwegen hervor, dass gerade die großen Religionen ganz unschuldig daran seien, dass sie so (relativ) leicht für die Politik zu gewaltsamen Zielen instrumentalisiert werden könnten: In ihnen wohne eben aufgrund ihrer Kraft zur Normensetzung der Drang zum Auschluss von anders Handelnden inne – und von hier zur Gewalt sei es kein besonders großer Schritt. Auch die Begeisterung für ihre Wahrheit könne in womöglich gewaltsamen Fanatismus ausarten.

Die Forderung an die Religionen, so sahen es auf der Tagung deshalb mehrere Experten, könne nur sein, dass sich die Glaubensgemeinschaften selbst aufklärten: Sie müssten ihr eigenes Gewaltpotenzial erkennen, bekämpfen und, wo möglich, in Toleranz gegenüber den anderen Religionen umformen. Oder, wie es Rittberger sagte: Es gehe um eine Schlacht. Jedoch nur in einem Sinne: „den argumentativen Kampf um die Köpfe der Menschen“.