denkmal für einen alten sack von JOACHIM SCHULZ:
Längst ist es hohe Zeit, meinem alten Physiklehrer Herrn Luhmann ein Denkmal zu setzen. Man werfe einen Blick in die heutigen Bildungsanstalten. Was treffen wir dort an? Ausnahmslos verständnisvolle Pädagogen, deren heiligstes Ziel darin besteht, der beste Freund ihrer Schüler zu sein und eine kuschelige Wohlfühlatmosphäre im Klassenzimmer zu erzeugen. Für sie ist ein Riesenpickel auf der Nase ein triftiger Grund, zwei Tage lang nicht zum Unterricht zu erscheinen. Im Vorübergehen raunen sie den Schülern deutlich hörbar ein „unregelmäßig, unregelmäßig!“ zu, wenn einer ihrer Zöglinge während des Vokabeltests sichtlich verzweifelt an der Vergangenheitsform von „to know“ herumknobelt.
Aus welch anderem Holz war dagegen Herr Luhmann geschnitzt! Wenn er die Klasse betrat, hatten wir hinter unseren Bänken stramm zu stehen wie ein Kürassierregiment. Wortlos marschierte er zu seinem Pult hinüber, fixierte uns finster und donnerte uns schließlich ein markiges „Guten Morgen, Mädel und Buben!“ entgegen, woraufhin wir ein ebenso markiges „Guten Morgen, Herr Luhmann!“ zurückzudonnern hatten und uns, sofern er zufrieden war mit Lautstärke und Simultaneität des Morgengrußes, setzen durften.
Von einem erheblichen Unterhaltungswert waren die Experimente, die Herr Luhmann veranstaltete. Um uns die Wirkung der Zentrifugalkraft zu veranschaulichen, band er ein dünnes Seil an einen Ziegelstein, den er sodann – einem Hammerwerfer gleich – über seinem Kopf herumschwirren ließ. Die Zentrifugalkraft war beachtlich, so beachtlich nämlich, dass das Seil riss und der Stein quer durch Physiksaal sauste, um endlich – den Klassendicksten nur um Haaresbreite verfehlend – ein ebenfalls beachtliches Loch in die Rückwand des Saales zu schlagen. Versteht sich, dass der Klassendickste umgehend kreidebleich wurde. Physiklehrer Luhmann hingegen forderte ihn nur lakonisch auf, den Stein gefälligst zum Lehrerpult zurückzubringen und währenddessen den eben gehörten Vortrag noch einmal knapp zusammenzufassen.
Trotz solcher zuletzt lustiger Zwischenfälle war uns in seinen Stunden jedoch niemals zum Lachen zumute, da wir stets darauf gefasst sein mussten, von einem seiner berüchtigten Kurztestate überrascht zu werden, die derart kniffelig waren, dass selbst unsere physikalischen Überflieger sich glücklich schätzten, wenn sie eine Drei ergattern konnten. In allen Klassen, die Luhmann unterrichtete, lag der Notenschnitt nur knapp über Fünf, und dazu passte, dass er die Klausuren des bereits erwähnten Klassendicksten gern und häufig mit einer Sieben bewertete und nur durch ein Machtwort des Direktors davon abgehalten werden konnte, ihm diese Note auch ins Zeugnis zu schreiben.
Dennoch will ich nie müde werden, Luhmann zu loben. Von ihm haben wir gelernt, dass die Welt, in der wir leben, nicht kuschelig gepolstert ist, sondern uns mit Kopfnüssen und Niederlagen versorgt. Und weil das so ist, hat er dieses Denkmal wahrhaftig verdient.
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