Freiwillige Selbstanzeige

DAS SCHLAGLOCH von FRIEDRICH KÜPPERSBUSCH

Mit dem heftigen Schaden an den Augen war meine berufliche Laufbahn beim Fernsehen konsequent

„Na, da hatten sie aber kürzlich noch eine andere Frisur!“, ließ der Ausschussvorsitzende erst mal meinen Ausweis rumgehen. Ein stillgelegter Realschulrektor, eine verdiente Hausfrau des Volkes und noch wer spähten auf meinen vormals dienstuntauglichen Haarschnitt. Nun wollte ich ja auch nicht den Frisier-, sondern den Kriegsdienst verweigern. Das müsste auch mit kurzen Haaren gehen, dachte ich; mein Vater hat so charmante Geheimratsecken, und an das Erbe wollte ich ran.

Es wurde die vermutlich größte Geheimratsecke der Welt später. Und sofort eine Nichtanerkennung als KDV. Mit der korrekten Locke sei ich auf dem rechten Weg, feines Abi liege auch vor, da stehe der Offizierslaufbahn doch nichts im Wege – die Kommission brachte es nicht über ihr Gewissen, mich an die Rollstühle zu lassen.

Statt des attraktiven Humphrey-Bogart-Looks vererbte Vater mir gänsehautähnliches Befinden, wenn samstags um 12 ringsum Sirenen erprobt wurden. Und ein paar diffuse Anekdoten von einem 15-Jährigen, der auf Bitten des Führers doch mal eben am Niederrhein die Amis zurückwerfen möge und so. Vaters Bruder war da schon vermisst, von der Wehrmacht, viel mehr aber von seinen Eltern. Sie bettelten und beflehten die Armee mit Nachforschungsanträgen. Zum bizarren Familienschatz zählt heute ein abschließender Formbrief der Heeresleitung, weitere Fragen nach dem Sohne seien nun aber mal gefälligst bis zum Endsieg zurückzustellen oder ob man den etwa durch querulante Eingaben gefährden wolle.

Den Hitlerjungs, zu denen auch mein Vater zählte, versprach man ruhmreiche Schlachten in inniger Waffenbrüderschaft mit dem „Volkssturm“. Das waren Veteranen, Verwundete, Invalide. Denen wiederum hatte man erzählt, da kämen jetzt die jungen Braunhemden, und mit denen würde endlich gesiegt. Als beide Verzweiflungstruppen sich nach kurzer und verlustreicher Grundausbildung auf einem rheinischen Marktplatz gegenüberstanden, sah mein Vater feldgraue, wehrlose Wracks an Krücken. Und die alten Männer sahen Kinder.

Was dann folgte, hätte damals den Tod bringen können – allseitige Desertion; und brachte langfristig Leben: drei Kinder und zwei Enkel. In deren Namen ich meines Vaters beschriebenen Beitrag zur deutschen Geschichte hier einmal ausdrücklich begrüßen möchte.

Statt solch ausführlicher Familiengeschichte hatte mein Freund Detlef der Gewissensprüfungskommission bündig dargelegt, der Film „Die Brücke“ habe ihn echt umgeworfen und deshalb wolle er jetzt nicht. Geht in Ordnung, anerkannt. Harald gefährdete beim THW unermüdlich jedes Wochenende die öffentliche Sicherheit, andere gingen Führerscheinmachen beim Bund. Insgesamt war ich der einzige Irre, der den Gewissensquatsch ernst nahm; vor allem im Vergleich zu den Seniorenbeiräten, die hier Beschäftigung fanden. Törichte Eitelkeit, die von irgendwas überzeugen zu wollen; mit einem ehrlich gelogenen Krankenschein wäre beiden Seiten viel erspart geblieben. So kam ich ins zweite Verfahren – Beschluss nach Aktenlage – Ablehnung. Hier fiel besonders meine blitzgescheite Bemerkung ins Gewicht, dass mir Waffen, etwa die Jagdwaffe meines Vaters, von Kindheit an eher Angst machen. Aha! Der Herr Deserteur ballert gern mal auf wehrlose Kaninchen! Da kann es mit dem ererbten Pazifismus ja nicht weit her sein, junger Mann. Eine Logik, die mir in dieser Brillanz erst später im Gespräch mit engagierten Tierschützern wieder so überzeugend vorgetragen wurde.

„Der hört sich gern reden“, fasste Kommission Nr. 2 ihren Eindruck vom Probanden erstaunlich vorausschauend zusammen; ich ging ins dritte, dann gerichtliche Verfahren. Dem Vorwurf rhetorisch ummäntelter Drückebergerei zu begegnen, trat ich zuvor eine Zivildienststelle an. Häusliche Pflege eines jungen Mannes, den ein Autounfall querschnittgelähmt hatte. Damals wie heute herrschte eklatanter Mangel an einsatzbereiten jungen Menschen im Pflegebereich; so nahm man mich gern auch schon mal ohne die nötige Anerkennung als KDV. Die folgte später; statt eines dritten tief schürfenden Besinnungsaufsatzes schob ich meinen Schutzbefohlenen in den Zeugenstand. Die beklagte Bundesrepublik war mal wieder nicht erschienen, da hatte das Gericht eh schon schlechte Laune, fand den ganzen Termin unnötig, wollte auch dem Behinderten die Zeugenaussage ersparen – und fertig, anerkannt. Auf der Zuschauerbank johlten Freunde und grinste mein Vater; er hatte ja ohnehin gemeint, ich sollte zum Bund; heutzutage würde er bei Personalgesprächen auch gerne mal fragen: „Wo haben Sie gedient?“ Aber nun hätte ich ja meinen Schädel durchgesetzt, auch gut.

Fast. Inzwischen hatte ich vierzehn Monate nicht anerkannten Dienst geleistet, und gerade war der Bundesregierung danach, die Abschreckung durch Länge auf stramme zwanzig Monate hochzuschrauben. Und, dumme Sache, da mein Dienst ohne Siegel begonnen habe, solle ich doch dann noch mal von vorne. Hätte unterm Strich dann rekordverdächtige 34 Monate Zivildienst gemacht; dafür hätten sie meinen damals ungeborenen Sohn schon mal vorbeugend freistellen können.

Wer sich nicht zum Dienst ohne Waffe durchringen kann, soll das vor einer Kommission begründen

Aber Peter Hintzes Behörde meinte das ernst, und ich saß am nächsten Morgen an der Uni und verübte – Obacht, freiwillige Selbstanzeige – folgenden Betrug nebst Urkundenfälschung: Eine alte Diplomprüfungsordnung, längst ungültig, wies meine 2 Semester Schnarchstudium als „fortgeschrittenes Stadium“ aus. Ich schrieb mich wieder ein und bat den Bund, mich erst nach erfolgreichem Abschluss – in 2 Jahren – einzuberufen. So ging es zwei, dann vier, schließlich sechs Jahre. Jedesmal fand sich irgendeine Prüfungsordnung, an der das Bundesamt für Zivildienst nicht vorbeikonnte.

Mit 28 war auch das vorbei; als amtlich enttarnter Bummelstudent sollte ich nun endlich einrücken zum zweiten Durchgang Zivildienst. Ich ging zur Nachmusterung, legte ein Attest meiner Augenärztin vor und war binnen Minuten ausgemustert. Mein Anwalt hatte mich auf den kleinen Fehler hingewiesen, dass ich bereits vor der Musterung verweigert hatte: „Wenn die wissen, dass du eh verweigerst, mustern die dich immer tauglich. Auch wenn du selbst im Rollstuhl kommst.“ Mit dem angeborenen heftigen Schaden an den Augen sei zwar meine berufliche Laufbahn beim Fernsehen durchaus konsequent; aber ich sei damit auch von Geburt an untauglich gewesen. Der Rest war der gewissenhafte Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit ihren Wehrpflichtigen und Ersatzwilligen.

Wenn die Wehrpflicht fällt: Schade, der Pflegenotstand ist nicht geringer geworden. Angemessen wäre diesem Land eine Friedenspflicht; wer sich aus Gewissensgründen partout nicht zu einem Dienst ohne Waffe durchringen kann, soll dies vor einer Kommission begründen und darf dann vielleicht zum Bund. Für den Kommissionsvorsitz schlage ich meinen Vater vor.