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: HELMUT HÖGE über Herlitz – ein Nachtritt

Der schiefe Elfenbeinturm von Pisa und der gerade Borsigturm von Tegel

Doch, doch, das hat was miteinander zu tun. Denn es war nicht zuletzt die krebsartige Ausbreitung der Herlitz’schen „McPaper“-Läden, die ausgehend von Westberlin die gesamtdeutsche „Ausbildungsmisere“ auslöste.

Erinnern wir uns! Überall gab es Papierwarenläden mit kompetenten älteren Verkäuferinnen, und unsere Mütter machten am Liebsten einen großen Bogen um diese Geschäfte. Den Wunsch ihrer Kinder nach einem Spontankauf konnten sie ihnen nämlich vor deren Schaufenstern am wenigsten abschlagen, weil er einem gewissen Bildungshunger entsprang, den es ja stets zu fördern galt. Und das, obwohl in der BRD Lehrmittelfreiheit herrschte, d. h. Hefte, Schreibstifte, Geodreieck und sogar Rechenschieber wurden von der Klassenlehrerin umsonst verteilt – und die Bücher sowieso.

Trotzdem fand schon der Erstklässler mit zunehmender Alphabetisierung immer mehr dazu Notwendiges in den Papierwarenläden. Wer erinnert sich z. B. nicht an den Kauf des ersten Füllfederhalters – von Geha oder Pelikan? Dann kamen die erste Federmappe, der Zirkelkasten, ein Tuschkasten, ein Buntstiftsortiment, ein Gummi Arabicum-Glas mit Pinsel, die ersten Schnellabhefter. Auch fanden sich immer irgendwelche Hefte, meist mit seriös-schwarzem Umschlag, die man unbedingt noch brauchte, oder es mussten mal wieder die Schulbücher mit neuem Papier eingeschlagen werden (das war Pflicht) … Kurzum: Diese wunderbaren Läden, in denen man mit aufgeregtem Konsum immer wieder den Lerneifer anstachelte, waren mindestens ebenso wichtig für die Bildung wie die Bibliotheken und Buchläden.

Und das alles hat dieser idiotische kalte Krieger Herlitz mit seinem McPaper-Quatsch ruiniert – bis hin nach Polen, wo der Konzern seit 1997 „Marktführer bei Schulheften“ ist. In Berlin beherrscht er daneben noch den Markt für Schulranzen, die er von armen Kulis in China herstellen lässt. Dass da Tränen und Flüche dranhängen ist egal, Hauptsache, alles ist schreiend bunt. Und das genau hat die Schulkrise produziert!

„Man muss sich das so vorstellen,“ meint mein Freund Horst, Lehrer an einer Schöneberger Schule: „Da sitzen die Mädchen und gucken die ganze Zeit in ihr Herlitz-Federmäppchen, in dem sich nur ein Spiegel befindet – die gucken also während des ganzen Unterrichts in den Spiegel … Es ist unfassbar!“ Gewiss, das ist das Ende aller pädagogischen Bemühungen, aber wie fing es damit an? Mit den ersten McPaper-Läden nach dem Mauerbau 1961 – und ihrem elenden „Blistern“, d. h. mit dem abgepackten und eingeschweißten Schulbedarf. Fortan konnte man weder Reißzwecken noch Umschläge in der gewünschten Anzahl kaufen, dafür wurde die Verpackung immer wichtiger, die dann auch noch fortwährend irgendeiner albernen grafischen Mode unterworfen wurde. Und jetzt sorgen sich die Kids eben nur noch um die selbe, d. h. um ihren Appeal.

Schulklamotten, Schwimmsuits, Sport-Trickots, Pausenjacken, Handys in den Farben der Saison … Die Schule ist nur noch zur Modeorientierung und Auftrittsschulung gut. Und die eigentlichen Schulbedarfsläden heißen nun H&M, Mango und Benetton – und um diese musikbeschallten „Galerien“ kann man keinen Bogen mehr herum machen. Schon allein deswegen nicht, weil es immer mehr Eltern gibt, die ihren missratenen Sprößlingen vor jeder wichtigen Mathearbeit was Neues zum Anziehen kaufen müssen – sonst schwänzen diese einfach den Unterricht – mit der Entschuldigung: „Ich hatte nichts anzuziehen!“ oder „Der ganze Leistungskurs lacht schon über meinen über den Bauchnabel schlabbernden Pulli!“

Aber das ist noch nicht alles: Schon verdanken sich die meisten Tattoos und Piercings einer halbwegs anständigen Benotung – als Belohnung. Ja, es gibt Schönheitschirurgen in Berlin, die versprechen ihren Töchtern eine Gesäßfettabsaugung oder Brustvergrößerung, wenn sie nur versetzt werden. An diesem Juvenil-Wahnsinn ist niemand anderes als McPaper schuld!