berliner szenen Leerstand im Nest

Zwischen den Zweigen

Was für ein Baum das ist im Hinterhof, weiß keiner. Vielleicht eine Eberesche oder etwas Artverwandtes. Das Taschenlexikon „Bodenpflanzen des Waldes“ bietet keine Auskunft. Möglicherweise weil der Moabiter Hinterhof kein Wald ist und Bäume keine Bodenpflanzen sind.

Der Baum ist schlank und hoch und geschmeidig. In einer Astgabel weit oben hält sich seit einiger Zeit ein struppiger Ball aus kleinen Zweigen, ein Nest, das leer steht. Es ist ein Nest für große Vögel. Zusammengetragen wurde es vor mehr als einem Jahr von einem Elsternpaar, das kurz darauf für immer verschwunden ist. Wie die kolportierte Elsternlegende von Diebstahl und Verrat es will, hat sich das beflügelte Paar entweder gegenseitig verraten oder bestohlen oder beides. Dann ist es still geworden um den Standort.

Manche Elster hat das Nest seitdem inspiziert. Keine ist geblieben. Zuweilen tagt der Rat der kleinen Vögel auf den Ästen unterhalb davon. Eine Einigung wird offenbar nicht erzielt. Vielleicht wegen ungeklärter Besitzverhältnisse. Oder wegen eines Fluchs. Doch wie kann ein Nest einen solchen Fluch beherbergen, dass selbst die Elster nach der Besichtigung unverzüglich das Weite sucht? Was kann den berüchtigten Eierdieb, den Schrecken possierlicher Singvögel, der kaum natürliche Feinde kennt, so entmutigen? Und hier wird das Geheimnis offenbar: Vögel wie die Elstern, die durch kaum natürliche Feinde bedroht sind, bekommen aus Gründen der Balance übernatürliche Feinde zur Seite gestellt. Das Nest wirkt von außen besehen recht komfortabel. Doch zwischen seinen Zweigen jagt ein herber Spuk: der dissonante, federnrupfende Gesang geisterhafter Singvögel, den nur die Elster hören kann. MONIKA RINCK