Beim Ellenbogen wird es problematisch

Wenn Kitas in Problembezirken liegen, spricht oft nur noch eins von zehn Kindern Deutsch. Die Erzieherinnen kämpfen gegen Frust und Überforderung. Mit den Zuwanderereltern verständigen sie sich per Handzeichen – wenn überhaupt

Die Frage macht Marianne Behrens zunächst sprachlos. Sie schaut nachdenklich und etwas irritiert, als habe man gefragt: Warum atmen sie eigentlich? Sie überlegt lange, lächelt und fragt dann zurück: „Wen soll ich denn hier integrieren?“ Marianne Behrens leitet die Kindertagesstätte Panketal in der Osloer Straße. Und tatsächlich scheint es hier – im sozial schwächsten Kiez im Wedding – schwierig, anders zu antworten. Forderungen wie Sprachförderung im Kindergarten oder Träume von früh gelungener Integration zerbrechen hier an der Realität. Und vor allem an einer Zahl: 86 Prozent. 86 der 100 Kinder, um die sich Behrens mit ihren Kolleginnen kümmert, sind ausländisch. Chinesisch, italienisch, afrikanisch – die übergroße Mehrheit aber ist türkischer Herkunft. „Alles was ich in meiner Ausbildung gelernt habe, kann ich hier vergessen“, sagt Behrens.

Die Erzieherinnen behelfen sich mit selbst gebastelten Strategien, um Deutsch zu lehren: Sie deuten auf die Tasse oder die Puppe, benennen die Gegenstände, wiederholen jedes Wort, jeden Satz mehrfach. Intern gilt die Regel: Alle Erzieherinnen sprechen deutsch. Nur ausnahmsweise, etwa wenn mit aufgeregten Eltern diskutiert werden muss, darf eine türkische Mitarbeiterin übersetzen.

Die Erfahrung in Panketal: Ein Kind, das kein Wort Deutsch versteht, lernt die Sprache auch in der Kita nicht fließend. Oft sprechen die Kinder untereinander türkisch, die meisten lernen allenfalls gebrochen Deutsch. Es dominiert ein Slang, den sich einige der älteren deutschsprachigen Kinder zu Eigen machen. „Die sagen dann auch schon: ‚Ich geh bei die Toilette‘“, erzählt Birgit Schulz, die sich in der Kita mit Vorschul- und Hortkindern beschäftigt.

Den gleichen Effekt beobachtet auch Andreas Pochert, schulpsychologischer Mitarbeiter im Wedding: „Kinder richten sich nach Sprachvorbildern – und wenn eine Gruppe dominiert, dann stellt diese meist die Meinungsführer.“ Die Hauptursache für die Sprachbarriere ist: Sobald sie nachmittags die Kita verlassen haben, wechseln die Kinder wieder in andere Kulturen – und vor allem in andere Sprachen. „Wir üben die ganze Woche mit den Kindern, nach dem Wochenende können wir aber wieder von vorne anfangen“, sagt Erzieherin Annette Herzfeld. Dieser tägliche Kampf, den viele Kolleginnen in Berliner Problembezirken wie Wedding, Neukölln, Tiergarten oder Schöneberg fechten, spiegelt sich auch in Zahlen wieder: Im Sommer vorigen Jahres testete das Berliner Institut für kreative Sprachförderung über 200 Kinder in 15 Neuköllner Kitas. Das Ergebnis schockiert: Drei Viertel der Vorschulkinder sprechen und verstehen nur mangelhaft Deutsch. „Mit ihren sprachlichen Fähigkeiten haben sie keine Chance, sich künftig am Schulunterricht zu beteiligen“, so das Fazit von Institutsleiter Sven Walter. „Sie sind von der ersten Klasse an auf der Verliererschiene.“ Große Lücken klaffen vor allem im Grundwortschatz. „Worte wie Hand, Nase oder Mund beherrschen die Kinder noch“, so Walter weiter. „Beim Ellenbogen wird es schon problematisch.“ Eine Diagnose, die sich nicht nur auf ausländische Kinder beschränkt. Auch fast die Hälfte der deutschen Kinder müsste in ihrer Muttersprache professionell gefördert werden. Die Methode der Sprachstandserhebung bei Kindern hat Pochert entwickelt. Seine Diagnose: „Die jetzige Diskussion kommt mehrere Jahrzehnte zu spät.“ Dennoch: Nicht zuletzt dank seiner Statistik nehmen inzwischen alle in der Stadt das Problem zumindest wahr. Ende des Monats wollen Senat und Experten in einer Sprachkonferenz ein Konzept für Kitas entwickeln. In der vorigen Woche forderte der Verband türkischer Unternehmer Quoten in Grundschulen und eine Kindergartenpflicht für ausländische Kinder. Letztere allerdings macht für Pochert keinen Sinn. „Weit über 90 Prozent aller ausländischer Kinder besuchen doch eine vorschulische Einrichtung“, sagt er. „Das geht an den Realitäten vorbei“, meint auch die Kita-Leiterin Behrens. Sie wird sich am nächsten Tag den Realitäten wieder stellen müssen. ULRICH SCHULTE