: Streitpunkt Bildungsurlaub
Schätzungsweise drei Viertel aller deutschen Unternehmen bieten berufliche Weiterbildungen an. Doch nicht immer stehen die Arbeitgeber der Wissbegierde ihrer Beschäftigten offen gegenüber
von TILMAN VON ROHDEN
Wissensgesellschaften gehen bei der Ausbildung zunehmend neue Wege. Die Erstausbildung in Betrieben oder Hochschulen wird immer stärker ergänzt durch Weiterbildungsphasen in späteren Lebensjahren. Dieses lebenslange Lernen findet berufsbegleitend oder als Vollzeitweiterbildung statt; in diesen Fällen ruht die Berufstätigkeit.
Drei Viertel aller deutschen Unternehmen bieten nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes, die auf 10.000 im Jahr 1999 befragten Betrieben mit zehn und mehr Beschäftigten aus nahezu allen Wirtschaftsbereichen beruht, berufliche Weiterbildungen an. Knapp 70 Prozent der Firmen setzten auf klassische Formen wie Lehrgänge und Kurse. Fast ebenso viele Unternehmen arbeiteten auch mit anderen Formen wie Informationsveranstaltungen oder Schulungen am Arbeitsplatz.
Je Teilnehmer ergaben sich im Durchschnitt 27 Weiterbildungsstunden im Jahr, wobei die Männer mit 28,5 Stunden etwas länger teilnahmen als Frauen. Die befragten Unternehmen ließen sich die Stunden 1.723 Euro (inklusive Lohn- und Gehaltszahlungen) pro Teilnehmer kosten.
Doch längst nicht immer stehen Unternehmen der Wissbegierde ihrer Beschäftigten offen gegenüber. Ein permanenter Streitpunkt ist der so genannte Bildungsurlaub. Er ist durch Landesgesetze, manchmal durch Tarifverträge oder andere Übereinkünfte geregelt. Dennoch mussten Justizgerichte schon oft Recht sprechen, weil Arbeitgeber und -nehmer unterschiedlicher Ansicht waren, inwieweit der Bildungswunsch während der Arbeitszeit rechtmäßig ist.
Grundsätzlich gilt: Arbeitnehmer haben einen gesetzlichen Anspruch auf Bildungsurlaub – außer in Bayern, Sachsen und Thüringen. Diese Länder haben bisher keine Bildungsurlaubsgesetze erlassen. In allen Ländern mit einem Bildungsurlaubsgesetz ist festgelegt, dass die Beurlaubung unter Lohnfortzahlung gewährt werden muss. Die jeweilige Ausgestaltung der Gesetze ist sehr unterschiedlich. So dürfen etwa Angestellte in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen acht Tage pro Jahr Bildungsurlaub nehmen, während es in Berlin bis zum 25. Lebensjahr zehn Tage in einem Jahr, ab 25 Jahre zehn Tage in zwei aufeinander folgenden Kalenderjahren sind. Der Anspruch entsteht in der Regel nach einer Mindestbeschäftigungsdauer, in Berlin beträgt sie sechs Monate. Nach dem Willen des Gesetzgebers kann Bildungsurlaub für berufliche wie auch politische Weiterbildung genommen werden. In Brandenburg ist auch kulturelle Weiterbildung vorgesehen.
Für die immer wieder umstrittenen Sprachkurse kann im Prinzip Bildungsurlaub beantragt werden. Näheres hängt vom Beruf und den Umständen seiner Ausübung ab. Das Bundesarbeitsgericht hat hierzu ein in sich widersprüchliches Urteil gefällt: Einerseits fordert das Gericht den direkten Bezug zur Berufsausübung, andererseits sei es ausreichend, wenn das erlernte Sprachwissen unter Umständen verwendet werden kann (sic!) und im weitesten Sinne für den Arbeitgeber von Vorteil ist.
„Wenn die Bildungsmaßnahme von der zuständigen Stelle als politische Bildung anerkannt ist, entscheidet der Arbeitnehmer, welches Seminar besucht werden soll“, sagt Brigitte Hansmeier, die beim Landesbezirk Berlin- Brandenburg der Gewerkschaft Ver.di für Bildung zuständig ist. „Der Arbeitgeber darf nicht bestimmen, zu welcher Thematik man/frau sich politisch weiterbilden will.“ Arbeitgeber dürfen den Bildungsurlaub nur in begründeten Ausnahmefällen untersagen. Arbeitnehmer müssen den Bildungsurlaub mindestens sechs Wochen vor der Freistellung anmelden.
„Beschäftigte sollten auf ihrem Recht bestehen“, sagt Hansmeier. „Wenn sich Gewerkschaftsmitglieder an uns wenden, können wir sehr häufig helfen.“ Sie rät, im Notfall die Gewerkschaft, den Betriebs- oder Personalrat einzuschalten. Doch diese Hinweise bestehen den Realitätstest oft nicht, denn nur rund zwei Prozent der Berechtigten machen von ihrem Recht auf Bildungsurlaub Gebrauch. Dies entspricht rund 500.000 Menschen mit circa 1,8 Millionen Teilnehmertagen. „Tendenziell sinkt die Beteiligung. Hier sind Krisenphänomene des Arbeitsmarktes sichtbar, die viele Arbeitnehmer aus Angst um ihren Arbeitsplatz daran hindern, ihr Recht auf Bildungsurlaub in Anspruch zu nehmen“, sagt Peter Faulstich, Pädagogik-Professor für Weiterbildung an der Uni Hamburg.
„Doch die Bildungsurlaubsgesetze sind eindeutig: Den Beschäftigten dürfen durch die Inanspruchnahme von Bildungsurlaub keine Nachteile entstehen“, insistiert Hansmeier. In dieselbe Kerbe haut auch Faulstich: „Die Politik muss stärker darauf hinwirken, dass das Recht auf Bildungsurlaub nicht in den Schreibtischschubladen und Aktenordnern verschwindet.“ Er müht sich gemeinsam mit den Gewerkschaften um politische Reformen. Sie streben eine bundeseinheitliche Regelung an.
Einführungsliteratur zum Problem Bildungsurlaub: Peter Faulstich (Hg.), „Lernzeiten. Für ein Recht auf Weiterbildung“. VSA-Verlag, Hamburg 2002
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