Baedeker für das 3. Jahrtausend

Auf dem deutschen Reiseführermarkt herrscht bunte Vielfalt. Ein Qualitätskriterium ist das aber nicht. Ein historisch-kritischer Überblick: vom Bildungsbürgerbuch über den Serviceteil bis zur virtuellen 3-D-Ansicht auf dem transportablen Bildschirm

von RALF NESTMEYER

Ein Blick in die Buchhandlungen zeigt: Der Reiseführermarkt boomt ungebrochen. Trotz wirtschaftlicher Rezession und 11. September reisen die Deutschen unverändert gern, einzig die Ziele haben sich verlagert.

Sieht man einmal von den Taschenbüchern ab, so nimmt die Reiseliteratur den größten Platz in den Regalen der Buchhandlungen ein. Kein Wunder, fährt doch inzwischen jeder dritte Deutsche mit einem Reiseführer in den Urlaub.

Ein Rückblick sei erlaubt: Waren die Reiseberichte ursprünglich von individuellen Erlebnissen geprägt und die Reiseziele nach persönlichen Vorlieben ausgewählt, so begann sich Mitte des 19. Jahrhunderts durch den Reihencharakter der Reiseführer à la Baedeker eine gewisse Normung abzuzeichnen. Bis 1872 deckten die Baedeker’schen Handbücher alle europäischen, bis 1914 auch die wichtigsten außereuropäischen Reiseländer ab. Die Zweckfreiheit des Reisens hatte ein Ende, galt es doch nun, den Kanon der Sehenswürdigkeiten pflichtschuldigst abzuhaken. Gegenwärtiges fand in der Auswahl kaum Berücksichtigung, die einheimische Bevölkerung wurde nicht oder nur am Rande wahrgenommen.

Erst in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts setzte ein Wandel ein, der den „Bildungswert“ des Reisens nicht mehr an oberste Stelle setzte. Dies offenbart sich einerseits im Verschwinden des klassischen Kunstreiseführers, andererseits in der auf praktischen Nutzen ausgerichteten Spezialisierung der verschiedenen Reiseführerreihen.

Ende der Siebzigerjahre kamen die ersten Alternativreiseführer – in Deutschland aus dem Michael Müller und dem Martin Velbinger Verlag – auf den Markt. Diese „Reisehandbücher“ wandten sich in erster Linie an den Rucksackreisenden, der weniger an Sehenswürdigkeiten als vielmehr an menschenleeren Stränden, günstigen Unterkünften und billigen, aber guten Restaurants interessiert war. Beseelt von dem Streben nach Authentizität und dem Wunsch, „anders zu reisen“, entstanden Programmreihen, deren „Geheimtipps“ schon durch ihre Publikation ad absurdum geführt wurden. Hinzu kam die immer wichtiger werdende Ausrichtung auf den Serviceteil.

Geradezu selbstverständlich erscheint es daher, dass die Reisebuchverlage versuchen, mit neuen Reihen Marktsegmente zu besetzen. Der Käufer soll seinen persönlichen Vorlieben entsprechend einen auf ihn zugeschnittenen gedruckten Reisebegleiter finden. Egal ob Golfer, Familien mit Kindern, Motorradfahrer oder Wanderliebhaber – jeder findet „seinen“ Reiseführer in den Buchhandlungsregalen.

Im Zuge des Eventtourismus werden Feste, ob religiöser oder karnevalistischer Natur, in den Vordergrund gestellt und durch die begleitenden Illustrationen in ihrer Bedeutung noch unterstrichen. Der moderne Reisende will „den Alltag“ erleben und sich unter das einfache Volk mischen. Der Schwerpunkt der Bilderauswahl liegt daher auf Angehörigen archaischer Berufe – Fischer, Lebensmittelhändler oder Weinbauern. Die Fotografen lassen im Vorfeld nichts unversucht, um etwa Gerüste und andere die vermeintliche Idylle störende Elemente auszusparen.

Diese Uniformität gilt als Vorzug eines Reihencharakters, hinter dem der Autor restlos zu verschwinden droht. Erwarb man einst noch bewusst einen Italienführer von Eckart Peterich, so interessiert heute niemand mehr, wer den Reiseführer eigentlich geschrieben hat. Die großen Verlagshäuser haben das Geschäft unter sich aufgeteilt. Reiseführer werden als Lizenzen in andere Länder weiterverkauft, so dass mitunter Franzosen von einem Deutschen über ihr republikanisches Selbstverständnis aufgeklärt oder Römer von einem Engländer über die Vorzüge ihrer Küche belehrt werden.

Die facettenreiche klassische Reiseliteratur, die im angelsächsischen Raum ein hohes Renommee genießt, fristet in deutschen Buchhandlungen dagegen nur ein Nischendasein. Trotz vieler Klassiker wie Bölls „Irischem Tagebuch“ oder Canettis „Stimmen von Marrakesch“ ist es hier nicht gelungen, die Reiseliteratur als eigenständiges Genre im Buchhandel zu etablieren. Die ambitionierten „Lesereisen“ aus dem Picus Verlag und die Reiseessays aus dem Schöffling Verlag sind nur wenigen interessierten Lesern ein Begriff.

Bleibt die Frage, welchen Anforderungen sich die Reiseführerverlage in den nächsten zwei Jahrzehnten werden stellen müssen. Fest steht schon jetzt, dass die Zukunft der Branche in den neuen Medien und den neuen Technologien liegen wird. Die heute schon anachronistisch anmutenden Velbinger-Reiseführer mit ihrem Schülerzeitungscharme der Achtzigerjahre werden auf dem Markt sicherlich keine Chance mehr haben, andererseits werden kostenpflichtige Downloads aus dem Internet, wie sie Marco Polo derzeit schon offeriert, nur ein kurzes Gastspiel geben, denn niemand erkundet London mit einem achtseitigen Computerausdruck in der Tasche.

Die Innovationsmöglichkeiten liegen eher in der Verknüpfung von Navigationssystemen, E-Books und der nächsten Handygeneration. Aktuelle praktische Informationen lassen sich so bei Bedarf an Ort und Stelle abfragen. Sie werden im Vorfeld konfiguriert und auf den jeweiligen Nutzer zugeschnitten. Niemand irrt mehr „hilflos“ durch eine fremde Stadt, denn mittels GPS-System wird man jedes noch so versteckte Restaurant problemlos auffinden können. Auf dem mitgeführten Display kann man sich mit Hilfe einer Satellitenkamera bereits im Vorfeld an jeden Ort der Welt heranzoomen und sich vergewissern, dass die Bucht so menschenleer ist wie erwünscht. Sitzt man am Strand, so sorgt der integrierte MP3-Player für den thematisch passenden Urlaubssound. Die Bedeutung von gedruckten Infohäppchen schwindet, stehen sie doch im virtuellen Netz als Video oder in einer 3-D-Ansicht bereit, um gegen Gebühr abgerufen zu werden. Ein zusätzlicher Tastendruck, und ein Zimmer in dem favorisierten Hotel ist gebucht. Ist das die schöne neue Welt?