Das Reise-Imperium

Maureen und Tony Wheeler haben mit der „Lonely Planet“-Reihe Bibeln für Backpacker geschaffen. Ihr Einfluss auf das Reiseverhalten ist enorm

von KATJA WALLRAFEN

Reisenden mit Rucksack muss man Maureen und Tony Wheeler nicht erst vorstellen. Individualtouristen – oder besser „Traveller“, wie sie sich kosmopolitisch zu nennen pflegen, weil Touristen erstens die anderen sind und zweitens organisiert – vertrauen den Ratschlägen der beiden blind: Das „Where to go“-Kapitel ihrer „Lonely Planet“-Reiseführer nehmen die Traveller so wörtlich, dass man sie mit dem Buch vor der Nase durch malaysische Dörfer stapfen sieht, bevor sie alle in der Traveller’s Moon Lodge in Kuala Lumpur anstehen, weil die in der Unterkunftsrubrik „Places to Stay – Budget“ an erster Stelle aufgelistet ist.

Ein Lonely Planet ist einfach, klar, verlässlich – und immer gleich aufgebaut. In simplem Englisch reihen sich Einführung, „Highlights“, Geschichte, allgemeine Informationen (Politik, Gesellschaft, Religion, Kunst, Klima, Flora, Fauna) und schließlich Hinweise zum Transport (Flug, Bus, Bahn, Auto, Boot) aneinander. Hernach werden bis ins Detail Städte und Strände, Tempel und Tavernen aufgelistet, viele, viele Karten inklusive.

Im Lonely Planet steht immer alles für alle: der kürzeste Weg zum besten Banana Pancake, zur besten Party mit den „Fellow-Travellern“, zur besten Buslinie, zum besten Hotel. Weltweit, kontinentweit, länderweit, städteweit. In mehr als 650 Führern von A wie Alaska bis Z wie Zimbabwe.

Erste Schritte

Es waren einmal zwei verliebte Menschen. Die hübsche Maureen aus Belfast und der zurückhaltende Brite Tony hatten 1972 ihre Ausbildung in London abgeschlossen und Lust auf Abenteuer. So schnürten sie ihre Rucksäcke und machten sich auf, die Welt zu entdecken. Weil sie nicht viel Geld hatten, aber gleich ein ganzes Jahr lang unterwegs sein wollten, reisten sie durch Asien und von dort weiter nach Australien. Nach zwölf Monaten kamen sie schließlich in Sydney an: mit 27 Cent in der Tasche und einer Kamera, die wenig später beim Pfandleiher landete.

Weil die Bilder in ihren Köpfen und die Erfahrungen des Reisens ihr einziges Kapital waren, machten sie sich daran, ihre Tagebücher in solches zu verwandeln. In Handarbeit entstanden 1.500 Exemplare des Reiseführers „Across Asia on the Cheap“, den das Paar höchstselbst bei Buchhändlern platzierte. Nach einer Woche war die Auflage ausverkauft – und ein Geschäft geboren. 18 Monate später lag der Wheelers zweites Reisehandbuch, „South-East Asia on a Shoestring“, bei Sydneys Buchhändlern vor. Das Buch, zusammengestellt in einem mittlerweile längst abgerissenen Hotel im Chinesenviertel Singapurs, wurde binnen kürzester Zeit die „Bibel“ der Backpacker. Heute steht der Klassiker in mehr als einer halben Million Haushalten im Regal; momentan wandert die 11. Auflage in Rucksäcken durch Indonesien, Thailand und Vietnam. Ferngesteuert von einem Unternehmen, das mittlerweile 500 Mitarbeiter in vier Büros in Melbourne, San Francisco, Paris und London beschäftigt. Laut Firmenangaben werden jedes Jahr 6 Millionen Exemplare verkauft, der Erlös habe sich in den vergangenen zehn Jahren von 5,8 Millionen Euro auf 48 Millionen Euro hochkatapultiert.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so reisen sie noch heute. Zwar nur noch sechs Monate im Jahr und zum Teil geschäftlich, aber Tony schreibt auch als Herausgeber nach wie vor für aktuelle Ausgaben. Das Management des Lonely-Planet-Imperiums liegt in den Händen eines Geschäftsführers, Maureen kümmert sich neben der Arbeit als Koherausgeberin grundsätzlich um Tourismusthemen, unter anderem als Direktorin von „Tourism Tasmania“. Die 52-Jährige darf sich „inspirierendste Geschäftsfrau des Jahres 1999“ nennen – den Preis bekam sie vom australischen „Business Women’s Network“. Was als spleenige Idee zweier Backpacker im chinesischen Hotel in Singapur begann, hat sich zu einer florierenden Firma zweier reisebegeisterter Genießer entwickelt, die ihre heute 19 und 21 Jahre alten Kinder auf den Entdeckungstouren immer dabeihatten.

In Großbritannien ist der Lonely Planet Marktführer. Konkurrenz gibt es vor allem in den USA; dort schwärmen jedes Jahr unbezahlte Studenten für „Let’s Go“ aus. Dessen „Let’s Go Europe“ schlägt den Lonely Planet. „Allerdings nur, was den Preis und die Leserzahl angeht“, sagt Tony. „Wer kompakte Hintergrundinformation, absolute Verlässlichkeit sowie gute Karten haben will, bleibt bei uns“, ergänzt Maureen und betont, im Lonely-Planet-Team würden fest angestellte und „gut bezahlte“ Leute arbeiten. Neben Kartografen, Grafikdesignern, Geologen und Physikern auch Menschen, die ihren Beruf mit Kletterer und Snowboarder angeben. Mancher ist zufällig ins Team gekommen, andere sind gelernte Fotografen oder Schreiber; mittlerweile auch ausgebildete Sales- und Marketingfachleute. Die Zeiten, als die Wheelers jeden Kollegen persönlich kannten, sind längst vorbei.

Die rasante Entwicklung ihrer Firma zum weltweiten Markenzeichen habe sie selbst überrascht, sagt Maureen. „Aus einem Schneeball wurde eine Lawine. Natürlich waren wir auch ein bisschen traurig, als wir plötzlich merkten, dass wir ein so großer Laden geworden sind – wir fanden es toll, als alles noch so klein, so privat war. Aber genauso natürlich haben wir uns dann zur Zusammenarbeit mit Profis entschlossen – was sollten wir tun bei der steten Nachfrage? Die neuen Kollegen waren wiederum so begeistert von unserem Projekt, die haben uns wieder angesteckt und motiviert. Ich glaube, wir sind gesund gewachsen.“

Führungsrolle

Dass es nicht immer so weitergehen kann, ist den Wheelers klar. Der Zahl der Reiseführer ist eine natürliche Grenze gesetzt; heute begleitet ein Lonely Planet fast in alle Länder der Welt. In Zukunft gehe es deshalb nicht darum, weiter zu wachsen, sondern das Erreichte zu halten. Und das ist schwierig genug: Die Konkurrenz kopiert das Erfolgsmodell, und die Ereignisse des 11. September 2001 haben sich negativ auf die Verkaufszahlen ausgewirkt – sie sind um 15 Prozent gesunken. Tony Wheeler glaubt, das sei eine nur kurzfristige Auswirkung, Maureen ist in dieser Angelegenheit weniger optimistisch. Jedenfalls sind die vagen Pläne, den Lonely Planet nicht nur auf Englisch, zum Teil auf Französisch und Spanisch, sondern auch auf Deutsch zu verlegen, vorerst auf Eis gelegt. Außerdem sei man sehr zufrieden mit dem deutschen Kooperationspartner, dem Stefan Loose Verlag in Berlin. Ein Ausweg aus der Wachstumskrise seien die vielen Spezialtitel (Foto-, Rad- , Trekking- oder Tauchbücher), kleine „Phrasebooks“, Atlanten und Karten, Kalender, um Kochtipps ergänzt – alle mit dem Lonely Planet symbolisierenden LP-Logo. Und dann sind da nicht zuletzt die Internetaktivitäten: Info- und Update-Websites bieten aktuelle Tipps: zur Sicherheit eines Landes, zu Sonderangeboten bei Flugtickets. Auf der „Thorn Tree“-Seite beliefern sich Reisende mit ihren jüngsten Erfahrungen: Der Karakorum Highway ist zugeschneit, die Grenze zwischen Vietnam und China wieder passierbar …

Von Anfang an hatte Lonely Planet eine treue Fangemeinde, und so trudeln mehr als tausend Hinweise wöchentlich per Anruf, Brief oder E-Mail ein. Vor einigen Jahren wurde „eKno“ konzipiert – ein „all-in-one communication system“ für billiges internationales Telefonieren, mit Faxmail-, E-Mail- und kostenlosem Voicemail-Angebot – rund um die Uhr, in acht verschiedenen Sprachen.

Last der Verantwortung

Bei all den Aktivitäten hat sich die Idee seit 1972 kaum verändert. Ob im digitalen Reiseführer oder traditionell schwarz auf weiß: Zwischen den Zeilen wird an die Verantwortung des Reisenden appelliert, Respekt vor der Umwelt und den Kulturen verlangt, treu nach Tony Wheelers einfacher Devise: „Je mehr man weiß über das Land, in dem man zu Gast ist, desto größer der Spaß beim Entdecken.“ Da die Zahl derer mit Spaß am Entdecken im vergangenen Jahrzehnt dramatisch gestiegen ist, macht sich das Lonely-Planet-Team Gedanken über die Folgen seiner Empfehlungsarbeit; schließlich hängen von den Reisebüchern mittlerweile Existenzen ab. Das hat den Inhalt der LP-Führer verändert. „Als wir noch eine Auflage von 300 hatten, konnten wir explizit Hotels empfehlen. Das können wir heute bei einer Auflage von bis zu 200.000 pro Edition nicht mehr und weisen stattdessen darauf hin, dass wir nur eine Auswahl nennen können“, beschreibt Maureen.

Tourismus sei heute die größte Einzelindustrie der Welt, sagt Tony: „Es gibt ernst zu nehmende Bedenken, dass sich der Massentourismus negativ auf sich entwickelnde Länder auswirkt. Aber wahr ist auch, dass sich dank des Tourismus die Lebensqualität in vielen Ländern verbessert hat.“ Meist seien es die immer gleichen grundsätzlichen Wünsche, ergänzt Maureen: „Ausreichende Nahrung, sauberes Wasser, Gesundheitswesen und vor allem Ausbildung und Chancen für die nachwachsende Generation.“

Über den Einfluss von Gästen aus der so genannten Ersten auf die so genannte Dritte Welt könne man nächtelang diskutieren, ebenso über den Einfluss von Fremden, die Unruhe in intakte soziale Gemeinschaften bringen – ob man das wolle oder nicht, müsse jeder für sich selbst entscheiden. „Fest steht, das Kulturen sich entwickeln. Wir können die Zeit nicht anhalten. Gesellschaften verändern sich. Und ich bin sicher, wir dürfen den Leuten überall auf der Welt zutrauen, selbst entscheiden zu können, was sie konservieren möchten“, glaubt Maureen.