Demut lernen in der Hölle des Nordens

Morgen geht’s zum 100. Mal über die Kopfsteinpflaster von Paris–Roubaix. Kein anderes Radrennen macht seine Protagonisten mehr zu Helden

„Es hat überhaupt keinen Sinn, sich für diese Rennen etwas vorzunehmen“

aus Paris SEBASTIAN MOLL

„Um bei La Roubaix zu gewinnen“, sagt Franco Ballerini, „musst du lernen, dort zu verlieren. Du musst über Jahre die verschiedenen Bedingungen kennen lernen und die Angst überwinden. Dann wächst langsam der Glaube, dass du stärker sein kannst, stärker als La Roubaix.“

Der Italiener, den sie einst Monsieur Pavé nannten, den Herrn der Kopfsteinpflaster, ist eine Ikone von Paris–Roubaix, jenem Radsportklassiker, den er zweimal, 1995 und 1998, gewonnen hat. In seiner fast poetischen Liebeserklärung an „La Roubaix“, wie er das Rennen zärtlich nennt, schildert Ballerini, was die Aura der Kopfsteinpflasterschlacht auf den üblen Karrenwegen aus dem 18. und 19. Jahrhundert durch den grauen Norden Frankreichs ausmacht und was ihren Mythos begründet: Unnahbar und kapriziös sei „La Roubaix“ – und sie lasse sich nicht im Sturm erobern. Wer um sie wirbt, muss demütig sein und lernen, ihre Launen geduldig zu ertragen.

Am morgigen Sonntag startet Paris–Roubaix zum 100. Mal seit 1896 auf dem Schlossplatz von Compiègne im Norden von Paris. Der Mythos der launischen Diva, die auf die Fahrer ob ihrer Zicken nur noch begehrenswerter wirkt, ist der vielleicht mächtigste im für die Mythologie ohnehin anfälligen Radsport. Bereits in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts hatte der französische Denker Roland Barthes diesen als die mythischste aller Sportarten beschrieben. Im Mythos, schrieb Barthes, kämpfe stets das Individuum gegen eine Naturgewalt. Diese wird im antiken Mythos personalisiert als Gottheit oder Fabelwesen; und im Radsport ist das ganz ähnlich: So wie Odysseus dem erzürnten Meeresgott trotzen musste, müssen die Radprofis bei der Tour de France den kahlen, ungnädigen Berggott der Tour, den Mont Ventoux, bezwingen. Oder eben die heimtückischen Kopfsteinpflaster von „La Roubaix“, die, je nach Laune der alten Dame, knöcheltief morastig sind oder den dichten Staub auf der schweißnassen Haut zu einer grauen Kruste werden lassen. Im mythischen Kampf mit der Naturgewalt wird der Einzelne – in der Antike wie im Radsport – zum Helden.

Der größte derzeitige Roubaix-Heros ist der Belgier Johan Museeuw. Sein Kriegsname ist „le survivant“, weil er derjenige unter den Fahrern zu sein scheint, der einfach nicht totzukriegen ist. Zum neunten Mal fährt der 36-Jährige in diesem Jahr bei Paris–Roubaix mit – und jedes Mal war er im Finale, im Kampf um den Sieg, dabei. Gewonnen aber hat auch er nur zweimal, 1996 und 2000.

So nährt Museeuws Geschichte Ballerinis Charakterisierung von „La Roubaix“ als dem Rennen, das eigenwillig mit der Vergabe des Siegerkranzes geizt und von den Fahrern fordert, immer wieder aufs Neue um sie zu buhlen. „Es hat überhaupt keinen Sinn, sich für dieses Rennen irgendetwas vorzunehmen, es ist ohnehin jedes Mal anders“, sagt Museeuw.

Seinen Ruf als Stehaufmännchen hat sich der Belgier freilich erst in den vergangenen vier Jahren erworben. In der berüchtigten Passage durch den Wald von Arenberg war er 1998 auf dem von Schlamm überspülten Pflaster ausgerutscht und hatte sich auf den scharfen Kanten des alten Steins die Kniescheibe zertrümmert. Im Krankenhaus von Gent hatte man vorübergehend sogar über eine Amputation nachgedacht, doch entgegen aller Prognosen stand Museeuw im Jahr darauf wieder am Start. Noch ein Jahr später, 2000 also, gewann er.

Doch im Sommer nach diesem Sieg musste er erneut um sein Bein bangen. Bei einem Motorradunfall zerschmetterte er sich das Schienbein. Und wieder kam Museeuw zurück: Bei der letztjährigen Ausgabe von „La Roubaix“ dirigierte er seine Mannschaft Domo auf die ersten drei Plätze. Er selbst stieg als Dritter aufs Podium.

Wie jede Geschichte von einem, der dem Reich der Lebenden nur noch mit einem Bein angehörte, kennt auch die von Museeuw ein Erweckungserlebnis. Als er mit zertrümmertem Knie auf dem Krankenbett im Genter Spital lag, so erzählt er, habe er tagelang nichts getan, als die kahle Decke anzustarren. In ihm aber habe derweil ein schwerer Kampf getobt: Wenn du dich gehen lässt, bleibst du im Rollstuhl und bist ein gebrochener Mann, habe die eine Stimme gesagt. Wenn du kämpfst und das überstehst, hielt die andere dagegen, wird dich nie mehr etwas anfechten können. Die letztere Stimme hat obsiegt – Museeuw wurde zum scheinbar unverwundbaren Heroen auf zwei Rädern.

Generationen von Fahrern haben sich am Mythos Paris–Roubaix gerieben und sich auf dem verwaschenen Granit im tristen französischen Kohlerevier zwischen Valenciennes und Roubaix Unsterblichkeit erworben. Dass etwa Eddy Merckx als der „Kannibale“ in die Folklore des Radsports einging, verdankt er nicht zuletzt „L’Enfer du Nord“, der Hölle des Nordens, wie Paris–Roubaix genannt wird. Bei seiner ersten Teilnahme, 1968 und als 23-Jähriger, entmachtete er im Handstreich die damals etablierten Fahrer, indem er gnadenlos von der Spitze weg aufs Tempo drückte. Einer nach dem anderen musste Merckx ziehen lassen und blieb entkräftet zurück. Aber selbst der große Belgier, der 1970 und 1973 noch zwei weitere Male gewann, behauptet, dass Roubaix Hingabe und Demut lehrt: „Keine meiner Siege waren so hart erkämpft. Und bei keinem anderen Rennen braucht man so viel Glück.“

Ähnliches berichtet auch Roger de Vlaeminck, der zwischen 1972 und 1977 als bisher einziger Fahrer viermal gewinnen konnte. Alle belgischen Kopfsteinpflasterrennen im Februar und März, meint de Vlaeminck, müsse man zur Vorbereitung fahren, „damit man sich an die Pavés gewöhnt und innerlich die Überzeugung bekommt, dass dieses verdammte Rennen zu packen ist“. Doch selbst das reiche nicht aus. „Man kann Paris–Roubaix nur mit extremem Training gewinnen“, sagt de Vlaeminck, er selbst sei nach dem Mittwochsklassiker Gent–Wevelgem, der immer in der Woche vor Paris–Roubaix stattfindet, mit dem Rad nach Hause gefahren: „Das waren noch mal 130 Kilometer zusätzlich zu den 250 des Rennens.“

Auch das habe zu dem beigetragen, was am Renntag den Champion ausmacht: absoluten Siegeswille. De Vlaeminck: „Wer nur an den Start geht, um weit vorne zu landen, kann niemals gewinnen.“ Doch selbst wenn man ihr all diese Opfer entgegenbringt, behält es sich „La Roubaix“ vor, den Sieger ganz allein zu bestimmen.