Israel ist keine Zufluchtstätte mehr

Immer mehr Israelis denken daran, ihr Land zu verlassen, das auch für Einwanderer, Touristen und Investoren zurzeit nicht attraktiv ist. Die Angst vor Anschlägen zehrt an den Nerven der Bürger, Umfragen zeugen von Konfusion und Depression

aus Jerusalem ANNE PONGER

Juden in aller Welt haben mittlerweile Angst. Sie fürchten sich vor Anschlägen auf jüdische Einrichtungen und einem „neuen Antisemitismus“, der sich an der israelischen Militäroperation in Palästinensergebieten entzündet. Aber auch Israels Bürger haben panische Angst, trotz der von Armee und Politikern zur Schau gestellten militärischen Härte gegenüber den Palästinensern. Selbstmordattentäter können als Erfolg verbuchen, dass Israel Juden in aller Welt nicht mehr als Zufluchtstätte und Israelis nicht mehr als gesicherte Heimat gilt. Israels Weiterbestehen, zumindest als „normaler Staat“, ist keine Selbstverständlichkeit mehr.

Der zionistische Traum scheint ausgeträumt, seit in Groß-Israel mehr Juden sterben als in der Diaspora. „Haben wir noch eine Zukunft?“ fragte das Massenblatt Ma’ariv kürzlich. 20 Prozent der Israelis gestehen, bereits über Auswanderung nachzudenken. Auch viele von denen, die nicht wegkönnen oder -wollen, fürchten, es sei für jede Lösung längst zu spät.

Umfragen zeugen von totaler Konfusion. 70 Prozent bekennen sich zu Ministerpräsident Scharon, obwohl 69 Prozent glauben, er habe keine politischen Lösungsvorschläge. 70 Prozent unterstützen die „Operation Schutzwall“, doch 74 Prozent sind zutiefst deprimiert. 70 Prozent hätten nichts gegen einen – wenn auch kleinen – palästinensischen Staat, aber weder unter Arafat noch unter der Hamas. 49 Prozent sind gegen den saudischen Friedensplan, aber 50 bis 70 Prozent wären für ein unterschiedliches Ausmaß eines Abbruchs jüdischer Siedlungen – gäbe es eine Chance, mit Palästinensern Sicherheit gegen Territorien auszuhandeln.

Von Scharon werden weder der Abbruch von Siedlungen noch territoriale Kompromisse erwartet, nach „Operation Schutzwall“ gibt es keine funktionsfähige Autonomiebehörde, keine für Teillösungen bereite Alternativpartner mehr. Und nach dem Machtzuwachs nationalistisch-religiöser Kreise in der Regierung könnte auch bereits der Vorschlag von Siedlungsauflösungen das Land in einen Bürgerkrieg treiben.

Nur wenige Israelis behaupten, sie hätten keine Angst, mit dem Bus zu fahren, im Supermarkt einzukaufen, im Restaurant zu sitzen oder ins Kino zu gehen. Mit Beginn der Badesaison am Sonntag sollen nun auch die Mittelmeerstrände von massiven Polizeitruppen und bewaffneten Rettungsschwimmern gesichert werden. Man schafft es nicht, alle Toten zu betrauern, die Friedhöfe arbeiten auf Hochtouren, die Hinterbliebenengemeinde wächst rapide. Die Apotheken melden gesteigerte Nachfrage nach Antidepressiva und Schlafmitteln. Da zieht es keine Einwanderer, Touristen oder Investoren mehr ins Land.

Nach dem Selbstmordanschlag von Mittwoch – inmitten der Operation zur vermeintlichen Zerschlagung der Terrorinfrastruktur und bei „hermetischer Abriegelung“ – kann es kaum noch Illusionen geben, dass Rachegelüste nicht wieder neue palästinensische Selbstmordkandidaten motivieren. Dennoch bietet Scharon den Amerikanern, den bisher zuverlässigsten Beschützern, die Stirn, und die Mehrheit heißt es gut. Die Hoffnungslosigkeit erweckt in Israel einen Herdenpatriotismus, der sich zunehmend in verlogenem Konsens, moralischer Arroganz und Selbstgerechtigkeit äußert. Wo man rationales Abwägen zwischen notwendigen territorialen Kompromissen und dem Wert menschlichen Lebens erwartet, wird der hohe Blutzoll damit gerechtfertigt, dass er für „die Rettung der Heimat“ bezahlt wurde.

Israel hat nicht nur den Kopf verloren, sondern auch Herz und Seele. Damit der jüdische Staat nicht nur ein kurzes Kapitel in der Geschichte bleibt, muss Israel wohl von außen heftig geschüttelt werden, bis es endlich zur Besinnung kommt.