„Du musst ‚Terrorist‘ sagen“

Trotz kämpferischer Bilder – viele Leute bleiben auf der Palästinademonstration am Samstag auf dem Alexanderplatz eher leise und nachdenklich

von WALTRAUD SCHWAB

Der Akku ist leer, die Handyverbindung tot. So findet Mandana ihre Schwester, die von der Arbeit direkt zur Demonstration ging, in der Menge am Alexanderplatz kaum. „Bei der Fahne“, hatte sie gesagt. „Aber bei welcher“, stöhnt die 18-Jährige. Grün-weiß-schwarz mit rotem Dreieck. Die Flagge von Palästina. Hier wird sie überall gezeigt. Kindern wurden kleine Wimpelchen in die Hände gedrückt. Aus glänzendem Papier. Unbenutzt und neu. Erwachsene tragen welche an Besenstielen befestigt. Die meisten lassen sie kraftlos über ihre Schultern hängen. Nur der Fahnenschwenker auf dem Lautsprecherwagen wirft seine ganze Muskelkraft in die endlosen Achten, die schöne Zeitlosigkeit. „Solidarität mit Palästina“ – so das Motto der Demonstration.

Ein Hauch Resignation liegt über der Menge am Alexanderplatz. Geduldig lassen sich die Leute von der Polizei durchsuchen, bevor sie sich dazugesellen. „Wir sind froh, dass wir in Deutschland unsere Meinung auf der Straße sagen können. Das ist besonders“, hatte die im Libanon aufgewachsene Mutter ihren Mann, Mandana und die anderen Kinder noch schnell ermahnt, bevor sie sie auf die Demonstration gehen ließ. Drei hautenge T-Shirts trägt die in Berlin geborene Tochter übereinander. Jeans, Jeansjacke. Lackschuhe mit hohem Absatz. „Merde, ich wollte noch Turnschuhe anziehen.“

Überzeugt, dass sie ihre Schwester auf jeden Fall finden wird, bahnt Mandana sich den Weg durch die Menge. Ungefähr 10.000 Leute sind da. Mediterran, europäisch, nordafrikanisch, kleinasiatisch, religiös, muslimisch, christlich, atheistisch, politisch korrekt, politisch inkorrekt. Ein paar Halbstarke sind unter der verhaltenen Mehrheit. „Gestört“, nennt Mandana sie, wenn sie im Laufschritt an der Demonstration vorbeiziehen und „Intifada“ brüllen. Das Palästinenesertuch tragen sie nicht als Hasskappe. Stattdessen wurde es vielfach von den Müttern am Rand mit roten Dreiecks auf schwarz-weiß-grünem Hintergrund umhäkelt. Wohl aber zeigen sie, welch brüchiges Geschichtsbild sie haben. Als sie einige der proisraelischen Gegendemonstranten auf der Friedrichsbrücke entdecken, strecken sie die Hand zum Hitlergruß aus. „Erst lernen wir, dass die Kreuzritter gut waren, als sie das Land dort, wo unsere Eltern gewohnt haben, erobert und ausgeplündert haben. Echt krass. Bei Hitler und Judenhass kommt kein Palästinenser mehr mit. Und wenn ich mit meiner Lehrerin in Politischer Weltkunde über Palästina reden will, hat die keine Ahnung“, schimpft Mandana. Sie glaubt, dass die Gestörten nicht den Hitlergruß meinen, sondern „Wut“ fühlten.

Mandana trifft Mozayan, eine syrische Palästinenserin und Freundin ihrer Mutter. Sie hat die Szene an der Brücke ebenfalls beobachtet. „Ich bin traurig. Was wollen die Leute. Israel hat doch schon alles.“ Mozayan hat in Damaskus ihr Abitur gemacht. Seit 15 Jahren versucht sie, in Berlin vergeblich eine Ausbildung zu bekommen. Asylbewerberin. Abgelehnt. Gerade mal geduldet. „Die Deutschen wissen so wenig über uns. Im Fernsehen zeigen sie auch nicht, dass es ein Krieg ist“, sagt sie. „Niemand wird als Selbstmordattentäter geboren“, steht auf einem Plakat, das eine Frau mit Kind trägt.

„Stoppt den Krieg, stoppt den Krieg, Palästina bis zum Sieg“, kommt es von Lautsprecherwagen. Aber so richtig will auf dieser Demonstration keine Stimmung aufkommen. Die meisten mitgebrachten Plakate der Leute, setzen auf Bedacht. „EU-Sanktionen gegen Israel verhängen und durchsetzen“ ist immer wieder zu lesen.

Eine Marlboro rauchende Tante mit Kopftuch, die Mandana bei der Suche nach ihrer Schwester trifft, trägt ein selbst gemaltes Plakat: „Für einen säkularen und demokratischen Staat Palästina“ steht darauf. Die praktizierende Muslimin will, dass Religion Privatsache bleibt.

Als der Zug an der britischen Botschaft vorbeizieht, kommt vom Lautsprecherwagen ein Lied. „Das wird nur im Krieg gesungen“, erklärt Mozayan. „Ich rufe euch. Ich sehe euch. Ich drücke euch die Daumen“, übersetzt sie. „Bei uns heißt das aber nicht ‚Daumen‘, sondern ‚Ich drücke euch die Hände‘“. Die Leute klatschen dazu im Takt. Immer wieder wird vom Lautsprecher gefordert, dass die Demonstration friedlich bleiben muss. „Was können wir hier tun?“, fragt ein Mann und ist doch froh, dass er in Berlin lebt.

Auf der Suche nach ihrer Schwester läuft Mandana einer weiteren Tante in die Arme. Acht der achtzehn Geschwister ihrer Mutter leben in Berlin „Da vorne, bei der Fahne der Frauen“, sagt sie. Dort sei Yesmin, Mandanas Gesuchte. Wie ein Sprungtuch tragen Palästinenserinnen eine riesige Flagge über die Breite der Straße gespannt. Eine Frau feuert die sich daran festhaltenden Mitstreiterinnen an. „Kindermörder Israel, Frauenmörder Israel. Palästina Freiheit, Palästina Sieg.“ Die Sprechchöre der Frauen haben ein schepperndes Echo. „Bei den Frauen ist immer Party“, sagt Yesmin. Da geht ihr Herz auf, obwohl sie traurig ist. „Das ist unser Land, das sind unsere Leute, die sterben“, sagt die junge Frau, die sich mondän gibt, leidenschaftlich gern in Berlin lebt, nur sehr ungern von „ihr“ und „wir“ spricht und am Ende einer Reise bei Ankunft im Bahnhof Zoo auch schon den vor Freude den Boden geküsst hat.

Die Schwestern haken sich ein. Yesmin in weißem Mantel und Lacktasche wartet auf eine Studienplatz in Pharmazie. Solange jobbt sie. Für 500 Euro, 30 Stunden die Woche. „Alle Verkäuferinnen dort kriegen so Hungerlöhne“, sagt sie. Angefeuert vom heiseren Cheerleader im Lautsprecherwagen, skandiert eine Kopftuch tragende Frau: „Scharon Turrurist, Bush Turrurist, Kapitalist Turrurist.“ Die 12-jährige Nour, Tochter Mozayans, zupft die Frau am Ärmel: „Du musst ‚Terrorist‘ sagen.“