„Eine große Chance verspielt“

Fehlende Kompromissbereitschaft in der Nahostfrage kritisiert Volker Ratzmann, innenpolitischer Grünen-Sprecher. Eskalierenden Streit in der Linken befürchtet er nicht

taz: Herr Ratzmann, Sie waren sowohl auf der propalästinensischen Demo als auch auf der Kundgebung „Solidarität mit Israel“. Ihre Partei hat zu keiner der beiden Veranstaltungen aufgerufen. Wie ist Ihre persönliche Einschätzung?

Volker Ratzmann: Ich habe mir beide Demos lediglich angesehen. Ich finde es richtig, dass Bündnis90/Die Grünen zu keiner der Veranstaltungen aufgerufen hat. Jede Demonstration hat nur jeweils die eine Seite dieses sehr polarisierten Konflikts repräsentiert. Ich finde es insbesondere richtig, nicht mit der Hamas und der Hisbollah zu einer Demonstration aufzurufen und unter deren Fahnen mitzulaufen. Das treibt die Eskalation des Konflikts nur voran. Die proisraelische Demo war differenzierter, ich finde aber falsch, dass Kritik an Scharons Politik teilweise mit Antisemitismus gleichgesetzt wird.

Die Kritiker der propalästinensischen Bewegung sehen einen antizionistischen Konsens in Deutschland.

Es ist nicht zu verstehen, warum bundesdeutsche Politiker so unsensibel sind. Was etwa Möllemann von sich gegeben hat, lässt befürchten, dass insbesondere auf der Rechten Antizionismus und Antisemitismus wieder hoffähig gemacht werden. Auf der anderen Seite gibt es sehr differenzierte Positionen. Fischers Sieben-Punkte-Plan weist in die richtige Richtung zur Lösung des Konflikts.

In der letzten Woche sprach sich Ihr Parteikollege Daniel Cohn-Bendit für eine Beteiligung deutscher Soldaten aus, falls eine UNO-Friedenstruppe in den Nahen Osten gesendet werden sollte. Stimmen Sie mit Cohn-Bendit überein?

Nein, auf gar keinen Fall. Wer tatsächlich meint, bundesdeutsche Soldaten könnten Frieden im Nahen Osten schaffen, verkennt historische Tatsachen und leistet dem kollektiven Vergessen von Auschwitz Vorschub. Ich bin mir darüber hinaus nicht einmal sicher, ob es richtig ist, jetzt schon über den Einsatz solcher Truppen zu diskutieren. Ich denke, dass der politische Druck auf beide Seiten erhöht werden kann und muss. Hier muss die Kriegspolitik Scharons im Vordergrund stehen.

Am vergangenen Mittwoch wurde eine proisraelische Veranstaltung in einer Neuköllner Kneipe von einer bewaffneten Gruppe angegriffen. Für den Ersten Mai haben beide Lager ihre Präsenz auf der Demonstration angekündigt. Befürchten Sie eine Eskalation in der Berliner Linken?

Nein, das befürchte ich nicht. Die Positionen sind zwar sehr polarisiert. Ich denke aber nicht, dass es dadurch zu Handgreiflichkeiten am Ersten Mai kommen wird. Ich meine jedoch, dass ein großer Teil der Linken, der sich keinem der beiden Lager zuordnet, die Chance verspielt hat, eine Position einzunehmen, die einerseits das Existenzrecht Israels verteidigt und Bombenanschläge verurteilt, aber dennoch ein Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser fordert und Scharons Politik kritisiert. Diese vermeintliche Widersprüchlichkeit zu formulieren und nach außen zu tragen birgt ein großes Potenzial.

INTERVIEW: BENJAMIN DIERKS