Nicht völlig ohne Hoffnung

Sarah Kanes letztes Stück: Laurent Chétouane inszeniert „4.48 Psychose“ im Malersaal  ■ Christian T. Schön

Wer allein in ein Sarah-Kane-Stück geht, ist mutig, läuft er doch Gefahr, das Vertrauen in Liebe und Freundschaft zu verlieren. Kane prägte brutale Bilder von Bürgerkrieg, sexueller, familiärer und selbstmörderischer Gewalt, ohne sie als das Drama sozial Randständiger zu verstehen. „Man darf sich nicht töten“, ließ Sarah Kane die Figur Cate in ihrem erstem Stück Zerbombt (1995) sagen. Das Grundthema Kanes, aus dem Inneren allgemeiner Beziehungen hervorbrechende Gewalt, liegt schon Zerbombt zugrunde. In den folgenden Stücken rückte sie das Thema Liebe ständig weiter in den Vordergrund, während parallel die Personen in immer kleinere Stücke zertrümmert wurden (etwa in Gesäubert, 1998).

In 4.48 Psychose (1999), Kanes letztem Stück vor ihrem Selbstmord, das vergangenen Freitag unter der Regie von Laurent Chétouane im Malersaal Premiere hatte, gehen beide Themen wieder eine enge Verbindung ein: „Um 4 Uhr 48 / wenn die Verzweiflung mich überkommt / werd ich mich aufhängen / im Ohr die Atemzüge meines Geliebten.“ Die Gewalt der namenlosen Protagonistin richtet sich dieses – das letzte – Mal gegen sich selbst. Sie will sich umbringen – erhängen, vergiften, Pulsadern aufschlitzen, am liebsten alles nacheinander. Ihre Motive: „Ich will nicht leben müssen in so einer Welt“ oder „Hoffnungslosigkeit treibt mich zum Selbstmord.“

Und weil Sarah Kane sich selbst das Leben nahm, wird allgemein davon ausgegangen, dass dieser letzte Schritt auch im Stück gelingt, „der Kampf ums Überleben“ verloren wird. Der Text endet jedoch mit den Worten: „Bitte öffnet den Vorhang.“ Hier könnte ein neues Leben beginnen.

Die nackten Betonwände des Malersaals, die Regisseur Chétouane für seine Inszenierung wählte, fokussieren die Blicke auf die einzige Person, die diesen beklemmenden Raum betreten wird: Benommen, wie unter der Einwirkung starker Antidepressiva, schleicht der Schatten einer Frau auf die Bühne. Hageres Gesicht, ausgezehrter Körper, leerer Blick, mal den Tränen nah, mal wütend.

Noch bevor Ursula Doll zu sprechen beginnt, zwingt sie die Zuschauer allein durch Anwesenheit in ihren Bann. Großartig hält sie neunzig Minuten die Spannung, steht die meiste Zeit still und spricht. Um Verletzlichkeit und Unversehrtheit zugleich zu beweisen, streckt sie ihre nackten, weißen Arme vor. Sie zittert, sie schreit – und spricht dann wieder in teilnahmslosem, sachlichem Ton: Selbstanklagen, Selbstanweisungen, rätselhafte Zahlenmuster, Gespräche mit Doktor und Geliebtem und vieles mehr.

Die Stärke von Chétouanes Inszenierung liegt darin, dass er die im Text vorgesehene innere Selbstzerstörung nicht in plastische Bilder umsetzt, der Verzweiflung keine dramatische Struktur aufzwingt, sondern sich darauf konzentriert, den Monolog ungekürzt gleich einem Film im Kopf der Frau zu präsentieren. Auch scheint es, als verweigere die raue, gesichtslose Beton-Umgrenzung der Malersaal-Bühne der Figur die Kraft zum Selbstmord.

Sie bleibt Spielball der Medikamente. Dabei wäre Selbstmord die letzte und extremste Möglichkeit, dem Körper, wenn er sonst nichts mehr spürt (wie beispielsweise die medikamentöse Ruhigstellung), ein „Erlebnis“, das letzte eindeutige Lebenszeichen in einem Geflecht von Abhängigkeiten und Beziehungslosigkeiten, zuzugestehen.

Indem Chétouane ihr den Ausweg zum selbstbestimmten Tod verschließt, nimmt er der Figur selbst den allerletzten Faden, das eigene Leben zu kontrollieren, aus der Hand. Und nur weil die Frau überlebt, glauben wir, dass es noch Hoffnung für sie gibt: Nachdem sie die Bühne verlassen hat, leuchtet für eine Sekunde ein Sternenhimmel im Dunkel. „Erinnere dich an das Licht und glaub an das Licht“, hatte sie mehrfach mantraartig wiederholt. Dann ist das Licht aus.

nächste Vorstellungen: 17. + 25.5., 20 Uhr, Malersaal