„Ich fühle mich wie tot“

Viele Einwohner Bethlehems haben durch die israelische Besetzung zunehmend Verständnis für eine Radikalisierung

aus Bethlehem KARIM EL-GAWHARY

Sogar die Katzen halten sich an die Ausgangssperre. Obwohl die Abfallhaufen, die sich vor den Häusern türmen, manchen Leckerbissen für sie bereithalten dürften. Es ist still an diesem Sonntagnachmittag in Bethlehem, kein Autolärm, kein Kindergeschrei ist zu hören, keine Musik kommt aus den verrammelten Häusern. Durchbrochen wird die Ruhe nur ab und an vom Röhren eines israelischen Truppentransporters in der Ferne oder vom Knirschen der Patronenhülsen oder Glassplitter unter den Schuhsohlen. Und dann ist da dieses Plätschern: Auch zwölf Tage nach dem Einmarsch der israelischen Armee spuckt so manche von Panzerketten aufgerissene Wasserleitung unaufhörlich wertvolles Nass auf die Straße, auch wenn jemand versucht hat, einige Rohre mit Lappen zu flicken.

Die Zerstörungen, die Israels Armee in der 48.000-Einwohner-Stadt im Westjordanland angerichtet hat, sind überall sichtbar. Der kleine Platz vor der evangelischen Kirche etwa ist verwüstet. Mit erhobenen Händen und langsamen Schrittes geht die Gruppe Journalisten in schusssicheren Westen zwischen den von Panzern platt gewalzten und ausgebrannten Autowracks die Straße runter in Richtung der Geburtskirche, wo nach christlichem Glauben Jesus das Licht der Welt erblickte.

In der Kirche haben sich mehrere Dutzend bewaffneter Palästinenser verbarrikadiert. Priester, Mönche und Nonnen harren dort der Dinge, die da kommen mögen. Die israelische Armee hat den Kirchplatz mit Panzern abgeriegelt, er wird von Scharfschützen gesichert. Kurz vor dem Platz winkt ein israelischer Soldat die Journalisten in eine Gasse. Dort erwartet sie der freundliche Presseoffizier Olivier Rafowitz, um ihnen die Lage aus Sicht der Armee zu erklären. Die Situation sei festgefahren, sagt er, die Kirche „mit Terroristen geradezu infiziert“. Unter den 230 Menschen, die in der Kirche eingeschlossen sind, befinden sich neben den Mönchen, Nonnen und lokalen politischen Führern laut Rafowitz auch „mindestens 35 der von Israel am meisten gesuchten, schwer bewaffneten Terroristen“. Die Armee verhandle über deren Kapitulation, bisher ohne konkretes Ergebnis. Der israelische Presseoffizier versichert, dass es keinerlei Pläne gebe, die Kirche zu stürmen, aber die Welt müsse auch verstehen, dass Israel diese Terroristen nicht einfach laufen lassen könne.

„Mit Terroristen geradezu infiziert“

Raanan Gissin, der Sprecher des israelischen Premiers Scharon, sprach unterdessen von einem Angebot an jene, die sich in die Kirche geflüchtet hätten. Sie stünden vor der Wahl, nach ihrer Aufgabe vor ein israelisches Militärgericht gestellt zu werden oder „für immer“ ins Exil zu gehen. Bislang gibt es darauf keine Reaktion aus der Kirche.

Also warten die Soldaten vor der Kirche weiter ab. Im Büro der palästinensischen Handelskammer in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche haben sie Quartier bezogen. Auch wenn jeder Soldat beim Verlassen der Unterkunft routinemäßig sein Schnellfeuergewehr entsichert, ist die Atmosphäre in der Gasse relativ entspannt. Die Soldaten erweisen sich sogar als diskutierfreudig. Er wisse auch, dass die Wiederbesetzung palästinensischer Städte nur wieder neue Anlässe schaffe, Israelis umzubringen, sagt einer von ihnen. „Aber was sollen wir sonst tun?“ Zwar sei ein Ende der Besatzung und eine Aufgabe der Siedlungen auch seiner Meinung nach die einzige Lösung, aber eben nur dann, wenn sichergestellt sei, dass Israelis und Palästinenser von einander getrennt werden können, glaubt der Reservist, der im zivilen Leben als Computeringenieur in Tel Aviv arbeitet. Auf die Frage, wer denn Bethlehem verwalten und die Schäden beheben soll, wenn die Armee sich wieder zurückgezogen habe, zuckt ein anderer nur mit den Achseln und sagt: „Den Wiederaufbau können ja die Europäer finanzieren.“

Wenige hundert Meter vom Kirchplatz entfernt, außerhalb des Blickfeldes der Soldaten, hat sich der Palästinenser Hassan al-Delo kurz auf die Straße gewagt, um den Schaden an seinem Wagen zu begutachten. Obwohl der Einmarsch fast zwei Wochen her ist, steht al-Delo immer noch fassungslos vor seinem zertrümmerten Fahrzeug. Im Haus versucht sich die achtköpfige Familie auf die Situation einzustellen. Nachdem eine Panzergranate in einen Laden unmittelbar vor dem Haus einschlug, waren alle Fensterscheiben zur Straße hin zerborsten. Daraufhin hat die Familie die zur Straße führenden Schlafzimmer geräumt und die Matratzen in die hinteren Zimmer verlegt. Nur der 93-jährige Großvater hat sich geweigert umzuziehen. „Wenn ich sterbe, dann in meinem Bett“, sagt der klapprige Alte stur.

Die Familie al-Delo ernährt sich von Dosentunfisch und Marmeladenbroten. „Wir sitzen hier wie im Gefängnis“, sagt Hassan. „Mit dem Unterschied, dass man im Gefängnis Essen bekommt.“ Seine Frau Rita winkt ab. Der Familie sei der Appetit ohnehin vergangen, sagt sie. Tochter Ifat war kurz davor, ihr Abitur zu machen. „Eigentlich wollte ich Elektronik studieren“, sagt die 17-Jährige. „Aber wie soll ich mir nach all dem meine Zukunft vorstellen?“ Sie sitze hier eingeschlossen im Haus und verfolge im Fernsehen, was um sie herum geschieht. „Ich fühle mich wie tot, obwohl mein Herz, das voller Wut ist, noch schlägt“, sagt Ifat. Sie könne verstehen, erklärt sie, wenn Mädchen ihres Alters sich einen Sprengstoffgürtel umschnallen und Soldaten in die Luft jagen würden. Schließlich seien das jene Leute, die die Befehle Scharons ausführen. „Vielleicht ist das die einzige realistische Antwort auf das, was sie mit uns machen.“