Comeback für Caniggia

Vor dem heutigen WM-Vorbereitungsspiel in Stuttgart plagen Marcelo Bielsa, den argentinischen Trainer, ganz ähnliche und doch vollkommen andere Probleme wie seinen DFB-Widerpart Rudi Völler

von CHRISTOPH KIESLICH

Marcelo Bielsa ist ein ruhiger, in sich gekehrter Mensch. Also hat der Trainer der argentinischen Nationalmannschaft erst kurz nachgedacht und dann ein paar Namen aufgelistet. Frankreich an erster Stelle. Diese Antwort war auf die Frage nach seinen WM-Favoriten nicht überraschend; Brasilien, natürlich, und auch Italien, die Portugiesen und Spanier wollte er nicht vergessen, die Engländer und die Afrikaner. Erst dann fiel Marcelo Bielsa noch Deutschland ein. „Sie haben eine schlechte Phase“, begründete Bielsa seine Reihenfolge, und die deutet an, welchen Stellenwert der deutsche Fußball derzeit international besitzt.

Dass der Weltmeister von 1978 und 1986 selbst neben Titelverteidiger Frankreich der meistgenannte Anwärter auf den Weltpokal 2002 ist, kümmert Bielsa indes wenig. „Das wird sich erst noch weisen müssen“, sagt er, „noch ist der Ball bei der WM keine einzige Sekunde gerollt.“ Dabei weiß Bielsa, der im argentinischen Fußball auf keine nennenswerte Laufbahn zurückblicken kann und sich seine Sporen in der Ausbildung von Talenten erworben hat, dass die Erwartungen in der Heimat unermesslich hoch sind – wie immer halt. Die volkswirtschaftliche und politische Krise lenkt die Hoffnung zusätzlich um auf eine Selbstbestätigung im Fußball.

Das Nationalteam selbst hat mit dem unvergleichlich souveränen Marsch durch die Südamerika-Qualifikation das Feuer geschürt. Von 18 Spielen ging nur eines verloren, 42 Tore zeugen von der Offensivkraft. Jüngstes Beispiel war das hinreißende Testspiel gegen Kamerun Ende März in Genf. Nach dem 2:2-Unentschieden, das selbst die vornehm-zurückhaltende NZZ mit „Drei-Sterne-Fußball“ betitelte, konstatierte ein verblüffter Winfried Schäfer: „Ich habe selten so ein schnelles Fußballspiel erlebt.“ Und dabei waren es die unzähmbaren Löwen des deutschen Trainers, die Argentinien alles abverlangt hatten.

Der 2:1-Führungstreffer gegen Kamerun steht stellvertretend für den Hochgeschwindigkeitsfußball der Südamerikaner. Keine zehn Sekunden benötigte der Ball von der eigenen Strafraumgrenze über Veron, Claudio Lopez und Caniggia bis zum Torschützen Pablo Aimar. Ein Treffer, bei dem selbst Schäfer einfach nur Fußball-Fan war: „Fantastisch!“ Gleichzeitig blieb beim Spiel gegen den Afrika-Cup-Sieger nicht verborgen, wo der Kern der Probleme liegt: Fast traditionell geben die Torhüter keine überzeugende Figur ab. Bielsa testete in der Qualifikation nicht weniger als vier Schlussmänner. Derzeit besitzt German Burgos von Atlético Madrid die besten Karten im Trauerspiel.

Dummerweise hat sich auch noch die Stammbesetzung in der Innenverteidigung in Wohlgefallen aufgelöst, da Nelson Vivas (Inter Mailand) und Eduardo Berizzo (Celta de Vigo) mit schweren Verletzungen fürs WM-Turnier nicht in Frage kommen. Und die Dreierkette Chamot (AC Mailand), Pochettino (Paris SG) und Samuel (AS Rom) machte zumindest gegen Kamerun keinen sattelfesten Eindruck. Bielsa wird sich deshalb glücklich schätzen, wenn es Kapitän Roberto Fabian Ayala beim FC Valencia noch rechtzeitig zum ersten Gruppenspiel am 2. Juni gegen Nigeria zu Fitness und Form bringt.

Vor dem heutigen Spiel gegen Deutschland (20.45, ARD), Argentiniens letztem offiziellem WM-Test, ergeht es Bielsa also kaum besser als DFB-Teamchef Rudi Völler, der zuletzt auch noch die Absage von Christian Ziege registrieren durfte. Nur: In Bielsas Fall liest sich die Liste der Absenzen fast wie das Aufgebot für eine Weltauswahl: Crespo (Lazio), Veron (Manchester United) und Batistuta (AS Rom) haben verletzt abgesagt, Ariel Ortega (River Plate) und Juan Román Riquelme (Boca Juniors) haben keine guten Karten. Doch während Völler wegen akutem Stürmermangel den 33-jährigen Martin Max für dessen womöglich erstes Länderspiel nachnominieren muss, konnte es sich Bielsa in Genf erlauben, seinen Jungstar Saviola, der derzeit beim FC Barcelona nach Belieben ins Tor trifft, 90 Minuten auf der Bank schmoren zu lassen.

Mit ziemlicher Sicherheit in der Anfangsformation von Stuttgart stehen wird aber: Claudo Caniggia. Er feiert nach vier Jahren Länderspielpause ein erstaunliches Comeback. Mit 35 Jahren hat der Mann mit den dünnen langen Haaren scheinbar nichts von seiner Dynamik und Ballgewandtheit eingebüßt. Bei den Glasgow Rangers erlebt Caniggia, der schon 1990 bei der WM dabei war und dann ein exzessives Leben jenseits des Fußballplatzes führte, gerade seinen dritten Frühling. Die perfekte Vorbereitung des zweiten Treffers in Genf darf als eindrückliche Bewerbung für seine dritte WM verstanden werden. „Ich muss ja was tun, um den Trainer zu überzeugen“, sagt der Rechtsaußen in aller Bescheidenheit.