Venezuela vor dem Drahtseilakt

Mit einem Paket von 49 Gesetzen, darunter eine Landreform, hatte Venezuelas Präsident Hugo Chávez Ende 2001 die Opposition der alten Elite geweckt. Nach dem gescheiterten Staatsstreich will Chávez jetzt Versöhnung und nationale Einheit

von TOMMY RAMM

Letzten Sonntag kurz nach Mitternacht schob sich ein winkender Hugo Chávez, eingequetscht zwischen Soldaten der Nationalgarde und eigenen Anhängern, in den Präsidentenpalast Miraflores. Dass er ihn noch einmal von innen sehen sollte, hätte er Stunden zuvor selbst nicht geglaubt.

Mehr als 200.000 Demonstranten hatte Chávez am letzten Donnerstag mit Hilfe der oppositionellen Medien und Teilen des Militärs aus dem Amt gezwungen – was sich später jedoch als Staatsstreich entpuppen sollte. „Nie habe ich meinen Rücktritt unterschrieben“, erklärte Chávez nach seiner Wiederkehr. Eine dreiköpfige Gruppe hoher Militärs habe ihn in Gewahrsam genommen und in eine Militärbasis gebracht. Den dafür verantwortlichen Heereschef Efraín Vasquez, der öffentlich erklärt hatte, der Präsident sei zurückgetreten, hat Chávez inzwischen abgesetzt.

Ein Draufgänger und Idealist ohne politisches Fein- und Feindgefühl war Chávez während seiner dreijährigen Amtszeit im Präsidentenpalast Miraflores gewesen. Unter dem Eindruck eines überwältigenden Wahlsiegs im Dezember 1998, bei dem über 70 Prozent der Venezolaner für ihn votierten, führte er im Oktober 1999 eine Verfassungsreform durch, die dem korrupten Staatsapparat der Vorgängerregierungen den Garaus machen und das Land reformieren sollte. So jedenfalls die Idee. Was zunächst aber blieb, waren weitreichende Befugnisse für den einstigen Fallschirmjäger, die ihm früh den Ruf eines Diktators einbrachten: Per Dekret gab sich Chávez Sondervollmachten, mit denen er nun am Parlament vorbei Gesetze verabschieden lassen kann. Dieses löste er im gleichen Zuge – verfassungskonform – auf. Es entstand ein Ein-Kammer-Parlament, überwiegend besetzt mit politisch Verbündeten.

Nach zwei Jahren markiger Sprüche lancierte Chávez im Oktober 2001 ein Paket von 49 Gesetzen, das als Auslöser im Konflikt mit beinahe allen großen und einflussreichen Gesellschaftsbereichen galt. Neben einer Verdoppelung der staatlichen Steuereinnahmen für privat gefördertes Öl und einer Überarbeitung der seit Jahrzehnten bestehenden Ölexportverträge wurde ein neues Landgesetz zum Ziel der oppositionellen Abschussliste. Einer Opposition, die kaum mehr politisch im Parlament vertreten war.

Das Gesetz sah vor, dass der Staat die Größe des Grundbesitzes zukünftig von der Bodenqualität und der Produktivität abhängig machen kann. Bei brachliegenden Ländereien gab sich die Regierung ein Interventionsrecht, um so den Besitzer enteignen zu können. Das roch für die alt eingesessenen Eliten nach Kommunismus. Plötzlich war der Populist, der bislang vor allem singend und Witze reißend durchs Land und die Welt gereist war, zur ernsten Bedrohung geworden. Schnell sollte sich Pedro Carmona, Präsident des Industriellenverbands Fedecámaras, zur Galionsfigur der Anti-Chávez-Koalition mausern.

Dabei hatte Chávez nie Zweifel daran gelassen, für die alte Elite eine Gefahr zu sein. Schon 1992 hatte er als Militär mittleren Ranges mit einigen Verbündeten einen Putsch versucht. Mit den gleichen Gegnern hatte er es jetzt zu tun, nur in besserer Position. Er vergaß darüber, den Gegner zu beobachten.

In einer Koalition aus Gewerkschaften, Kirche, Medien und Industriellen wurde am 10. Dezember ein erster Generalstreik in Venezuela ausgerufen. Dass sich die Gewerkschaften gegen Chávez stellten, liegt in der Tradition. Seit Jahrzehnten ist der Gewerkschaftsdachverband CTV in den Händen der früheren Regierungspartei Acción Democrática (AD). Als im Oktober ein neuer CTV-Präsident gewählt wurde, setzte sich AD-Kandidat Carlos Ortega durch. Die CTV schloss sich sofort der Anti-Chávez-Koalition an.

Statt auf Kompromisssuche zu gehen – was allerdings auch die Opposition nie versuchte – unterschrieb Chávez das Gesetzespaket. In der Folgezeit machten die Gegner des Präsidenten auf den Straßen Caracas’ ihrem Unmut Luft. Demonstranten aus der Mittel- und Oberschicht lieferten sich Straßenschlachten mit Chávez-Anhängern. Für sie war der Präsident ein kommunistischer Populist, der enge Beziehungen zu Fidel Castro pflegte, politische Bindungen zu „Schurkenstaaten“ wie Libyen und Irak aufgebaut hatte und hemmungslos nahezu alle Länder bereiste, die nach Ansicht der USA den Terrorismus unterstützten.

Den wohl schärfsten Gegner fand der Präsident jedoch in der Presse, die ihn seit Beginn seiner Amtszeit als einen „Verrückten“ einstufte. Mit Ausnahme der Zeitung Última Noticia sind alle Printmedien in Oppositionshand. Fanden die Chávez-Gegner keine Fürsprache mehr im Parlament, nutzten sie die Medien als ihr Sprachrohr. So hatten die privaten Radio- und Fernsehsender vor den jüngsten blutigen Demonstrationen dieser Tage in regelmäßigen Abständen Spots geschaltet, um gegen Chávez zu mobilisieren und den Eindruck entstehen zu lassen, der Präsident habe jede Unterstützung verloren. Umso überraschender kam für viele die Tatsache, dass Chávez allen Vermutungen eines absoluten Popularitätsschwundes trotzt. In den armen Schichten verfügt der Caudillo weiter über eine zwar angekratzte, aber ungebrochene Popularität. Die armen Leute sind überzeugt, dass Chávez „ihr Präsident“ ist.

Ihnen bleibt auch kaum etwas anderes übrig. Links und rechts von ihm gibt es niemanden, der ihn ersetzen könnte. Der Umstand, dass sich die an die Macht geputschte und sogleich zerstrittene Opposition nur auf einen Industriellen als Übergangspräsidenten einigen konnte, zeigt das Vakuum auf der politischen Bühne Venezuelas.

Chávez steht jetzt vor einem Drahtseilakt. Er hat Versöhnung und nationale Einheit versprochen – ob er mit seinem Stil der Mann dafür ist, bleibt zu bezweifeln. Der Kredit, den ihm seine Anhänger am Wochende mit auf den Weg gegeben haben, hat eine befristete Laufzeit. Nach vier Jahren kann der Präsident laut Chávez’ Verfassung abgewählt werden. Die Opposition wird alles daran setzen.