Ist Beton eine öffentliche Störung?

Heute beginnt in Lüneburg der Strafprozess gegen die Castorblockierer vom März 2001. Die Vorwürfe könnten sogar mit einer Freiheitsstrafe geahndet werden. Innenminister Schily will anscheinend Protestierer über neuen Gebührenerlass abschrecken

von NICK REIMER

Jetzt geht es den „Castorhelden“ zum dritten Male an den Kragen: Heute beginnt vorm Amtsgericht Lüneburg der Prozess gegen Anti-Atom-Aktivisten, die sich im März 2001 auf der Bahnstrecke nach Gorleben an einem Betonblock festgekettet hatten. Die Aktion der Umweltschutzorganisation Robin Wood mit Leuten aus dem Wendland hatte durchschlagendem Erfolg: Der Atomzug wurde seinerzeit nicht nur 17 Stunden lang aufgehalten; erstmals in der Geschichte des wendländischen Castorprotestes musste er rückwärts rollen. Das verursachte beträchtliches Medienaufsehen, weil damit die offizielle Version der Polizei vom „weitgehend störungsfreien Verlauf“ der Zugtransporte nicht mehr aufrechtzuerhalten war.

Allerdings auch mit einem unangenehmen Nachspiel für die Aktivisten: Im Sommer vergangenen Jahres flatterten ihnen Schreiben ins Haus, in dem Bahn, Technisches Hilfswerk und Bundesgrenzschutz ihre Kosten in Rechnung stellten. Alles zusammen sind es 38.000 Mark, etwa 19.400 Euro. Ob und wie viel davon zu zahlen ist, wird derzeit vor verschiedenen Gerichten verhandelt. Und nun beginnt auch noch der strafrechtliche Prozess gegen vier der fünf Gleisblockierer. Gegen die fünfte Beteiligte, die damals ebenfalls im Betonblock steckende 16-jährige Marie, wird getrennt vor dem Jugendgericht Dannenberg verhandelt.

Gefährlicher Eingriff in den Schienenverkehr, Nötigung, Sachbeschädigung und Störung öffentlicher Betriebe – die Ermittlungsbehörden hatten große Geschütze aufgefahren. „Allerdings musste die Staatsanwaltschaft ‚gefährlichen Eingriff‘ und ‚Sachbeschädigung‘ wieder fallen lassen“, sagt Rechtsanwalt Wolfram Plener, einer der Verteidiger. Erstens habe es keine manipulierende Maßnahme an den Gleisen gegeben – und damit eben keinen gefährlichen Eingriff, zweitens sei das Gleisbett ja erst durch das Herausschneiden der Aktivisten beschädigt worden. Bleiben also Nötigung und Störung – zwei Vorwürfe, die mit Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren geahndet werden können.

So bitter der Prozess für die vier Aktivisten werden kann – es geht um nichts Geringeres als den rot-grünen Atomkonsens. Seitdem der nämlich in Kraft ist, definiert die Bundesregierung die Gesellschaft beim Thema Atomenergie als „befriedet“. Otto Schily erklärte seinerzeit eindrucksvoll den Umkehrschluss: Die Störer seien mit „der vollen Härte des Gesetzes zu bestrafen“, forderte der früher selbst öffentlich störende Bundesinnenminister. Protest wird also nicht mehr als Meinungsäußerung angesehen, sondern kriminalisiert.

Im Mai letzten Jahres setzte das Bundesinnenministerium dann Schilys verbale Forderung mit einem Erlass zum Bundesgrenzschutzgesetz – Geschäftszeichen BGS 12-632232-1/0 – um: „Die Befreiung dieser Störer … ist als unmittelbare Ausführung einer Maßnahme im Sinne § 19 Abs. 1 BGSG anzusehen. Erstattungsfähig sind alle Kosten, die durch die unmittelbare Befreiungsmaßnahme entstanden sind“, heißt es darin; „alle Kosten“ ist dick unterstrichen.

Rechtsanwalt Plener übersetzt das so: „Nach dem BGS-Gesetz hatten die Behörden einen Ermessenspielraum bei der Frage, ob und wie viel festgekettete Protestierer zahlen müssen. Diesen Spielraum beseitigt der Erlass für Blockademaßnahmen.“ Neu ist zudem, dass erstmals auch Personalkosten für Beamte einbezogen werden müssen.

Mihai, einer der Aktivisten, will heute „relativ gelassen“ vor Gericht erscheinen. „Ich fühle meinen Protest legitimiert und stehe nicht allein“, sagt er. Auch Rechtsanwalt Plener glaubt an die Legitimität des Protests: „Wenn zu Castorzeiten im gesamten Wendlandkreis die Bürgerrechte ausgehebelt werden, bleibt nichts anderes übrig, als derart deutlich seinen Widerspruch zu bekunden.“ Zur Regressforderung erklärt Robin-Wood-Sprecherin Ute Bertrand: „In Wahrheit geht es nicht um Schadenswiedergutmachung, sondern um Einschüchterung“. Alexander, ein anderer Aktivist, der heute angeklagt wird: „Es ist bedenklich, dass der Staat so versucht, politische Meinungsäußerungen zu unterbinden.“