Bundespräsident beendet Sprachlosigkeit

Als erstes deutsches Staatsoberhaupt will Johannes Rau heute über die Verbrechen der Waffen-SS in Italien sprechen

ROM taz ■ Am heutigen Mittwoch wird der auf Staatsbesuch in Italien weilende Bundespräsident Johannes Rau dem Dorf Marzabotto einen Besuch abstatten und damit jenen Ort aufsuchen, der wie kein anderer zum Symbol für die von den deutschen Besatzern in den Jahren 1943–45 auf italienischem Boden begangenen Verbrechen wurde.

Nie zuvor in den vergangenen gut 50 Jahren hatte ein deutscher Präsident zu diesem Kapitel offiziell Stellung bezogen. Vor zehn Jahren hatte Richard von Weizsäcker sich zwar zu den Ardeatinischen Höhlen in Rom begeben und einen Kranz niedergelegt – dort waren 335 italienische Geiseln erschossen worden. Auf eine Ansprache allerdings hatte er verzichtet. Anders jetzt Rau: Er will nicht nur mit Überlebenden zusammentreffen, sondern auch in einer Ansprache der Opfer des deutschen Verbrechens gedenken. In Marzabotto, einem Dorf im Südwesten von Bologna – einer Gegend, in der Partisanen erbitterten Widerstand leisteten – schlachtete die Waffen-SS im September 1944 insgesamt 770 Personen vom Kleinkind bis zum Dorfpfarrer ab, nachdem es in der Nähe des Dorfs zu Kämpfen mit Partisanen gekommen war. Das Kommuniqué des Divisionskommandos sprach von „718 getöteten Feinden, unter ihnen 497 Banditen und 291 Komplizen“. Knapp 300 der Opfer allerdings waren Kinder, so wie auch die meisten anderen wehrlose Zivilisten waren.

Jahrzehntelang war dieses Kapitel in den bilateralen Beziehungen weitgehend ausgeklammert worden. So wenig Nachdruck Deutschland auf juristische Ermittlungen legte – insgesamt wurden in Italien allein knapp 10.000 Zivilisten von deutschen Truppen ermordet –, so wenig Druck übte Italien seinerseits aus. Sowohl aus Gründen der „Versöhnung“ mit den italienischen Komplizen Nazi-Deutschlands, als auch aus Nato-Bündnistreue im Kalten Krieg hielten es die Regierungen in Rom für inopportun, Deutschland mit seinen Kriegsverbrechen zu behelligen: Die Ermittlungsakten wurden einfach weggeschlossen. Italien verzeichnet deshalb sehr aufmerksam, dass mit Rau jetzt der höchste Repräsentant Deutschlands endlich die Zeit der Sprachlosigkeit beenden will. Und sehr genau auch wurde verzeichnet, dass die deutsche Fernsehsendung „Kontraste“ just in diesen Tagen vier der am Massaker von Marzabotto Beteiligten aufspürte, die bisher von der Justiz in Deutschland unbehelligt im Ruhestand leben.

MICHAEL BRAUN

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