Politische Rendite für Pim Fortuyn

Der vorzeitige Rücktritt der Regierung Kok ist für die Wahlen im Mai nebensächlich. Längst profitiert ein anderer von der Unzufriedenheit der Holländer

„Ginge es nach mir, wir hätten 0 Prozent Zuwanderung“

von HENK RAIJER

Das fehlte dem holländischen Ministerpräsidenten noch. Erst die Schlappe bei der Kommunalwahl am 6. März und jetzt der Untersuchungsbericht zur Rolle Den Haags beim Fall der UN-Schutzzone Srebrenica. Vier Wochen vor den Wahlen vom 15. Mai zog der Sozialdemokrat Wim Kok die politische Konsequenz aus den schweren Vorwürfen gegen seine Regierung und bot der Königin gestern seinen Rücktritt an. Sämtliche Kabinettsmitglieder folgten am Ende der Forderung ihres Kollegen Jan Pronk, der wiederholt öffentlich erklärt hatte, die Politik habe im Falle Srebrenicas „völlig versagt“, er werde das Kabinett auf jeden Fall verlassen.

Der Bericht des „Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation“ (Niod), der am Mittwoch letzter Woche vorgelegt wurde, hatte der Regierung Kok ein denkbar schlechtes Zeugnis ausgestellt. Am 11. Juli 1995 hatten niederländische Blauhelme, die aus Prestigegründen zu einer „unüberlegten und aussichtslosen Mission“ in eine „nicht klar definierte Schutzzone“ geschickt worden waren, das Massaker an rund 7.400 Muslimen durch bosnische Serben nicht verhindern können. Danach hatte die Militärführung Regierung und Öffentlichkeit über die Vorgänge in Bosnien bewusst nicht die ganze Wahrheit gesagt.

Der vorzeitige Rücktritt ist, was den Ausgang der Wahlen betrifft, im Grunde nebensächlich. Eine Neuauflage der „lila“ Koalition ist ohnehin unwahrscheinlich. Denn längst profitiert ein neuer Star von der Unzufriedenheit der Niederländer mit acht Jahren Kok. Der Rechtspopulist Pim Fortuyn, politischer Debütant und strahlender Sieger der Kommunalwahl in Rotterdam, kommt dem Ärger vieler Bürger mit griffigen Slogans entgegen.

Die „Rotterdämmerung“, wie die Wochenzeitung De Groene nach dem Durchmarsch von Fortuyns Partei „Leefbaar Rotterdam“ titelte, hat die politische Elite Den Haags in Panik versetzt. Nur wenige Wochen vor der Parlamentswahl hat Fortuyn, von Berufspolitikern von links bis rechts in den letzten Monaten gern als Komiker oder Scharlatan belächelt, von anderen wegen seiner islamfeindlichen Äußerungen aber auch als „rassistischen Hetzer“ geschmäht, Hollands politische Landschaft gehörig aufgemischt. Der Soziologieprofessor, der noch Anfang Februar Frontmann der landesweiten Partei „Leefbaar Nederland“ war, dort aber wegen seiner xenophoben Entgleisungen das Feld räumen musste, erzielte am 6. März mit seinen „Lebenswerten“ in Rotterdam auf Anhieb 34,7 Prozent der Wählerstimmen.

„Professor Pim“ hat mit seiner eiligst gegründeten landesweiten „Lijst Pim Fortuyn“ nur eines vor: am 15. Mai stärkste Fraktion in Den Haag zu werden und Wim Kok als Regierungschef zu beerben. „Für mich zählt nur der Hauptgewinn“, so Fortuyn, „ein Ministerposten reizt mich nicht.“ Nach Umfragen bekäme der 53-Jährige, würde heute gewählt, 16 von 150 Sitzen in der Zweiten Kammer und belegte damit nach den Sozialdemokraten (39), den Christdemokraten (31) und den Rechtsliberalen (27) den vierten Platz (siehe Kasten).

Wie kann es sein, dass in einem Land, das wegen seiner Vorreiterrolle in Fragen wie Sterbehilfe, Integrations- oder Drogenpolitik im Ausland als liberal, tolerant und weltoffen gilt, dessen Arbeitsmarktpolitik (Poldermodell) europaweit Vorbildfunktion hat, die Wähler plötzlich einem Mann hinterherlaufen, der nicht nur die rabiate Privatisierung einer ganzen Reihe öffentlicher Aufgaben, sondern auch die Zwangsintegration in Holland lebender Einwanderer fordert? Und der einer „Null-Toleranz-Politik“ Marke Haider, Bossi oder Schill das Wort redet?

Es ist das Unbehagen vieler Niederländer an der Unentschlossenheit der „lila“ Regierung unter Führung des Sozialdemokraten Wim Kok. Zwar hat die wie keine andere in Europa für Aufschwung und Arbeitsplätze gesorgt. Im sozialen Bereich jedoch ist die seit 1994 regierende Koalition aus Sozialdemokraten (PvdA), Rechtsliberalen (VVD) und Linksliberalen (D 66) weit hinter ihren Versprechungen zurück geblieben. Ob nun die eklatanten Engpässe im Gesundheitssystem, das Chaos im Schulwesen, das Hin und Her in der Zuwanderungs- und Asylfrage oder die stetig wachsende Kriminalität in den Großstädten – Pim Fortuyn, der politische Nonkonformist und Bonvivant, der unbefangen einen aufwändigen Lebensstil pflegt, meint, die Regierung kümmere sich nicht um die Belange des Volkes, sondern nur noch um sich selbst. „Dieses Land geht den Bach runter – und zwar durch die Untätigkeit der linken Kirche“, sagt er in Anspielung auf die Debattier- und Konsenskultur der Mitte-links-Regierung in Den Haag. Der Kampf gegen Bürokratie, Scheinheiligkeit, Amtsanmaßung und Apathie der politischen Klasse, die „immer nur redet, anstatt etwas zu tun“, sei daher „erste Bürgerpflicht“.

Fortuyn, der von Hollands Politmagazin Elsevier als „Hedonist, Rebell und Dadaist mit dem Gladiatorenkopf“ beschrieben wurde, wehrt sich mit Nachdruck gegen das Etikett „rechtsextrem“. Gleichzeitig lässt er verlauten, er sei schon seit seiner Jugend „dazu bestimmt, das Land zu führen“. Seine Mission: „den Bürgern ihr Land zurückzugeben“ und Schluss zu machen mit dem „korrupten Subventionssozialismus“.

„Wie kein anderer versteht es Fortuyn, Unzufriedene vom linken wie vom rechten Rand zu mobilisieren, die sich sonst nicht mal die Mühe machen würden, wählen zu gehen“, hieß es jüngst in einer Analyse der Volkskrant. „Das sind Bürger, die sich vom Haager Politspektakel abwenden, die finden, dass die Niederlande zu sozial, zu unsicher sind. Und vor allem zu schwarz.“

Nicht erst seit der Vorstellung von Fortuyns Wahlprogramm, das am 12. März als Buch erschien (siehe Kasten) und schon vor der Präsentation vergriffen war, weiß der Wähler, woher der Wind weht: „16 Millionen Niederländer sind genug, das Land ist voll. Ginge es nach mir, wir hätten 0 Prozent Zuwanderung. Vor allem käme kein Muslim mehr ins Land“, tönte Fortuyn wiederholt in Interviews. Wenn er in Den Haag die Verantwortung trage, würden als Erstes das Schengener Abkommen und die UN-Flüchtlingskonvention aufgekündigt. Schärfere Grenzkontrollen würden eingeführt, um die Zahl der Asylbewerber einzudämmen. „80 Prozent dieser Leute sind doch Wirtschaftsflüchtlinge“, ist Fortuyn überzeugt. „Was bedeutet das Wort Flüchtling denn überhaupt noch? Wenn du wirklich auf der Flucht bist, bleibst du in deiner Region, gibst dich mit einem Zelt und einer Schale Reis von Lubbers [dem UNHCR-Hochkommissar; d. Red.] zufrieden.“ Da steige man nicht in ein Flugzeug und fliege nach Holland.

Als Regierungschef will Fortuyn auch die „Auswüchse“ des Islam in Holland bekämpfen, am liebsten ein Einreiseverbot für Anhänger des Islam verhängen: „Ein Fundamentalist, der öffentlich behauptet, unsere Frauen seien Huren und Leute wie ich Schweine, den will ich bei uns nicht haben“, so der bekennende Schwule, der auch für die Streichung des ersten Verfassungsartikels eintritt, der Diskriminierung verbietet. „Für mich ist klar: Der Islam ist eine rückständige Kultur.“ Markige Worte, die auf fruchtbaren Boden fallen. Pim Fortuyn, das zeigt die Wahlbeteiligung vom 6. März, zieht Protestwähler jedweder Couleur an, nicht zuletzt die Nichtwähler. War die Wahlbeteiligung mit 57,7 Prozent landesweit diesmal niedriger denn je, so gingen in Hollands zweitgrößter Stadt 6,1 Prozent mehr als beim letzten Mal an die Urne: Rund 85.000 Rotterdamer bescherten dem Debütanten auf Anhieb einen überragenden Wahlsieg. „Vor allem Leute ohne Ausbildung, aber mit ordentlichem Einkommen wollen einen Typ wie Fortuyn: hart arbeitende Bürger, die sich über all jene ärgern, die das in ihren Augen nicht sind“, stellt der Amsterdamer Politologe Cees van der Eijk fest. „Das ist der Nährboden für Protestparteien dieser Art.“

In Rotterdam, der „roten Hochburg“, in der seit 1947 ununterbrochen die PvdA regierte, die heute nicht mal mehr Mitglied einer Koalition sein wird, haben die Wähler klar gegen das alte System der pragmatischen Kooperation votiert. „Ja, er ist ein Faschist“, räumt ein Passant im Rotterdamer Viertel Bloemhofwijk ein, wo 60 Prozent dem schillernden Professor ihre Stimme gegeben haben. „Aber die vielen Stimmen für Fortuyn werden die anderen wachrütteln.“

Hollands etablierte Parteien haben das Nachsehen, die „lila“ Koalition steht nach acht Jahren Amtszeit und so kurz vor der Wahl, bei der Sympathieträger Wim Kok (PvdA) nicht mehr antreten wird, vor einem Trümmerhaufen. Die Spitzenkandidaten auch der bürgerlichen Opposition sind ratlos.

In direktem Vergleich mit dem Mediengenie Fortuyn sehen Hollands Politprofis, sei es Kok-Nachfolger Ad Melkert (PvdA) oder Hans Dijkstal (VVD), alt aus. Sie benehmen sich wie saturierte Bürokraten, die den Wechsel ins neue Jahrhundert verschlafen haben, die ihren Wählern Phrasen als Vision andienen und dringend zum Imageberater müssten. Ad Melkert, der charismafreie Parteistratege, der Wim Kok als Spitzenkandidat der PvdA abgelöst hat, kommt bei den Leuten überhaupt nicht an. Die VVD hatte nach dem Debakel vom 6. März sogar überlegt, ihr Zugpferd auszutauschen.

Bis zur Wahl am 15. Mai dürften die Verlierer vom März kaum Terrain zurückerobern. Hollands Wähler machten sich auf zu einer gnadenlosen Abrechnung mit der „politischen Kultur eines vergangenen Jahrhunderts“, so Fortuyn. Und was passiert, wenn er ähnlich spektakulär abräumt wie am 6. März? Während Grüne, Linksliberale und Sozialdemokraten einer möglichen Koalition „eine klare Absage“ erteilten, haben Rechtsliberale (VVD) und Christdemokraten (CDA), die am Abend nach dem Debakel noch vollmundig jedwede Zusammenarbeit mit dem „Messias von Rotterdam“ ausschlossen, eingeräumt, dass für sie, wenn sie regieren wollen, an Pim Fortuyn kein Weg vorbeiführt.