Zehn Wochen im Ausnahmezustand

Vor zwölf Jahren gab es einen Streik in den Westberliner Kindertagesstätten. Zehn Wochen machten die ErzieherInnen die städtischen Einrichtungen dicht – aus denselben Gründen wie heute. Sie scheiterten am Widerstand der SPD

Die Forderung ist alt – und vor zwölf Jahren führte sie schon einmal zum Streik. Schon damals wollten die Gewerkschaften ÖTV und GEW Gruppengröße und Personalbemessung für die Westberliner Kindertagesstätten im Tarifvertrag festschreiben – also für wie viele Kinder eine Erzieherin rein rechnerisch zuständig ist. Und schon damals, 1989 war es, lehnte der damalige Innensenator Erich Pätzold (SPD) die Forderung kategorisch ab. Nach Warnstreiks im November und Dezember 1989 begann im Januar der Streik, der zu einem der längsten in der Nachkriegsgeschichte in Westberlin werden sollte.

Schon wenige Tage nch Streikbeginn schrieb die taz von ungewohntem Gequengel, Gebrabbel und Windelgeruch in U-Bahnen, Betrieben und Behörden. Dass dieser Zustand aber zehn Wochen dauern würde, damit rechnete Mitte Januar 1990 noch niemand. Schon am dritten Tag ruhte in 354 der 395 städtischen Kitas in Westberlin die Arbeit, und täglich wurden es mehr. Vom Streik der 6.000 ErzieherInnen waren 46.000 Kinder betroffen.

Die Gewerkschaften waren damals der Ansicht, dass sich in den Kitas „20 Jahre nichts Entscheidendes verbessert hat“, und forderten eine tarifvertraglich festgeschriebene Aufstockung des Personals. „Pädagogische Arbeit statt Aufbewahrung“, lautete der Slogan der ErzieherInnen. Der rot-grüne Senat dagegen meinte, ein solcher Tarifvertrag sei gar nicht möglich.

Die Unterstützung der Eltern für den Streik war groß. Vom ersten Tag an organisierten sie Notdienste für die Kinder. In einem leer stehenden OP-Saal des Urban-Krankenhauses richteten sie zum Beispiel eine Not-Kita für Kinder aus der Nachbarschaft ein. Andere Eltern brachten ihre Kinder reihum in Privatwohnungen unter; die Belastbarkeit von Großeltern, Nachbarn und Freunden wurde auf eine harte Probe gestellt. Dennoch wurde die Situation für immer mehr Eltern zum Problem.

In der vierten Woche machten die Gewerkschaften einen Kompromissvorschlag – doch die SPD-Mehrheit im Senat lehnte ab. Die Alternative Liste (AL), die den Positionen von ÖTV und GEW durchaus nahe stand, konnte sich nicht durchsetzen. Auch die Einschaltung eines Vermittlers, die Oppositionsführer Eberhard Diepgen vorschlug, scheiterte an den Sozialdemokraten.

Langsam wandelte sich die Stimmung in der Öffentlichkeit – auch wegen der augenscheinlichen Aussichtslosigkeit des Unterfangens. Zwar war auch in der neunten Woche der Streikwille der meisten ErzieherInnen noch ungebrochen. Bei einer geheimen Abstimmung in Neukölln votierten nur 15 von 500 ErzieherInnen für den Abbruch des Arbeitskampfs. Dennoch setzte die Gewerkschaftsspitze am 23. März, nach über zehn Wochen, den Streik aus – allerdings ohne eine Urabstimmung durchzuführen. Die Gewerkschaftsbosse befürchteten zu Recht, bei einer solchen Abstimmung zu unterliegen. Damit brachten sie die eigene Basis gegen sich auf.

Der Kitastreik scheiterte letztlich an der starren Haltung der SPD. Zwar ging man auf die Gewerkschaften zu und kündigte 248 neue Stellen und Kitagesetze an, Personalumfang und Gruppengrößen wurde aber nicht im Tarifvertrag festgeschrieben.

SABINE AM ORDE