in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über die Anfield Road

Das beste Publikum der Welt

Selbst wenn es nur wenige Minuten bis zum Anpfiff sind, das Stadion noch den Zuschauern allein gehört und an der An-field Road dem viele Jahrzehnte alten Ritual folgend, „You’ll never walk alone“ gespielt wird, ist es zum Kulturpessimismus nicht weit. Ich mochte das nicht glauben, nachdem ich miterlebt hatte, wie sich die zweiundvierzigtausend von ihren Sitzen erheben und das einstige Musical-Stück in einen Choral verwandeln, dem man eine religiöse Tiefe nicht absprechen kann. Doch auch Liverpool hat die Globalisierung des Fußballs eingeholt und damit jene Fragen, die sich überall stellen, weil die proletarisch dominierte Fußballkultur längst in der Zeit der neuen Fußballmärkte ange-kommen ist.

Nicht nur in Dortmund oder Schalke, auch um den FC Liverpool gibt es seit Jahren eine heftig geführte Diskussion, ob die einst tief empfundene Hingabe an den Klub nicht längst einer Konsumentenhaltung bei Teilen des Publikums gewichen ist. Schnöde Erfolgsfans, die womöglich noch aus der Ferne herbeigekarrt wurden wie zu einem Musical. Wie soll da jene Intensität erstehen, die Liverpool berühmt gemacht hatte, als auf dem Kop die Gesänge zum Fußball erfunden wurden? Damals, als auf der größten Stehtribüne Europas 24.000 Fans zu einer Wand aus Leibern wurden, bereit zu jeder Passion und Ekstase.

Nein, so ist das heute an der Anfield Road nicht mehr. Der Kop ist eine schnöde Sitztribüne mit einem McDonald’s-Restaurant, das Stadion ist ein relativ uncharmanter Ort mit viel Wellblech an den Innenwänden der Tribünen und der Aura einer Werkshalle. Und doch kann man hier etwas erleben wie nirgends sonst, auch wenn es nicht das Erwartete ist. In der Arena AufSchalke geht es zweifellos lauter zu und in den Stadien am Rio de la Plata mag noch ausdauernder gesungen werden. Lokalderbys in Rom produzieren mehr Hysterie, und das dunkle Grollen beim Zusammentreffen der Rangers und Celtic in Glasgow ist wohl nirgends so zu erleben.

Man muss etwas genauer aufpassen, um zu verstehen, was das Publikum an der An-field Road so besonders macht. Sicherlich gehört auch die Etikette dazu, das eigene Team nie auszupfeifen und bei einer Niederlage dem Gegner Respekt zu zollen. Doch die wirkliche Sensation liegt jenseits davon. Etwa in dem Moment, als John Arne Riise im Mittelfeld über den Ball tritt und sich deshalb für den Gegner eine Gelegenheit zum Gegenangriff ergibt. Keine dramatische Gefahr droht, aber wer ein gutes Auge hat und Fußball kennt, riecht die Bedrohung. So geht ein erschrecktes Aufstöhnen durchs Stadion, wie ich es noch nie gehört habe. Die zweiundvierzigtausend reagieren sofort und auf die gleiche Weise, sodass dieser seltsame Laut zwischen Seufzen und Stöhnen aus einem Mund zu kommen scheint.

Das zeigt, wie tief konzentriert das Publikum dem Spiel gefolgt ist und dass es die Situation sofort erkannt hat. Solch kollektive Konzentration und Kennerschaft ist beeindruckender, als es jeder noch so hohe Lärmpegel sein könnte, und sagt mehr über die Bedeutung, die Fußball in diesem Stadion zugebilligt wird als jedes noch so inbrünstige Intonieren der Vereinshymne.

Liverpools französischer Trainer Gerard Houllier, der zugleich ein Fan des Klubs und der Stadt ist, hat einmal darauf hingewiesen, dass die Anfield Road gelegentlich lacht. Er meinte nicht das Lachen von Besuchern, die sich auf der Tribüne einen Witz erzählen, sondern das gemeinsame Lachen von Tausenden, die eine komische Situation auf dem Rasen zugleich erkannt haben.

Vielleicht war das Fußballerlebnis an der Anfield Road einst größer und stiftete mehr lokale Identität, als man an der Merseyside die Begeisterung noch nicht mit Fans aus Südengland oder Japan teilen musste. Zweifellos bitter ist es, dass sich viele Anhänger heute keine Eintrittskarten mehr leisten können. Doch geblieben ist ein Publikum von einer Expertenschaft, wie man sie nur an großen Häusern erlebt, das zugleich tief loyal ist und nicht so verwöhnt reagiert wie etwa in Barcelona oder Madrid. Ein besseres wird man kaum finden.

Fotohinweis:Christoph Biermann, 41, liebt Fußball und schreibt darüber