Märchen mit kaputten Sehnen

Über Jahre hinweg hat Sportjournalist Friedrich Bohnenkamp den Zehnkämpfer Frank Busemann begleitet – zu Wettkämpfen, Arztbesuchen und in die Rehaklinik. Herausgekommen ist ein inniges Psychogramm („Aufgeben gilt nicht“, 22.25 Uhr, 3sat)

von FRANK KETTERER

„Das ist doch verrückt, denkst du als Mensch und Journalist, und fragst dich einmal mehr: Warum hört er nicht auf?“ Friedrich Bohnenkamp hat sich diese Frage oft gestellt seit jenem Tag, an dem er seinen ersten Beitrag über den Zehnkämpfer Frank Busemann gedreht hat. Wie aus dem Nichts Olympiazweiter war der Banklehrling aus Dortmund an diesem Tag, im heißen Sommer von Atlanta geworden – und der Leichtathletikfachmann Bohnenkamp hat es für die ARD in Wort und Bild festgehalten, dieses Wunder in zehn Teilen. Fast sechs Jahre und zwei Dokumentarfilme später ist die als „modernes Sportmärchen“ (Bohnenkamp) begonnene Geschichte des Zehnkämpfers Busemann nicht frei von tragischer Dimension. „Die Natur hat ihn verschwenderisch mit dem Talent zum Zehnkampf beschenkt. Dummerweise hat sie vergessen, ihm auch den entspechenden Körper mitzugeben. Er weiß es, er ignoriert es“, stellt Bohnenkamp in seinem Film „Aufgeben gilt nicht – Die Leiden des Athleten Frank Busemann“ fest. So ist die Dokumentation auch zu einem traurigen Sammelsurium kaputter Sehnen, Bänder und Knochen geworden.

Und doch dient Bohnenkamp dies nur als Oberfläche, als Projektionsebene für ein inniges Psychogramm über einen Höchstbegabten aus der Welt des Sports, der seine eigenen Grenzen nicht akzeptieren möchte, nicht kann – und der, um sie doch zu erreichen, scheinbar bereit ist, seinen eigenen, fragilen Körper vollends zu zerstören. Ein Psychogramm über einen, der vor jedem Wettkampf starke Schmerztabletten, freilich abseits jeglichen Dopings, einwirft, um überhaupt zwei Tage lang laufen, springen und vor allem werfen zu können. Einen, der mit gebrochener Leiste an den Start geht und trotz der Schmerzen den 16 Jahre alten deutschen Rekord im Hallen-Siebenkampf bricht, sich darüber freut wie Oskar, obwohl er anschließend wieder auf dem OP-Tisch landet.

Einen, der sich Kapsel und Muskelfaser im Ellbogen zerfetzt beim Speerwerfen und den Wettkampf dennoch zu Ende bringt und sich für eine WM qualifiziert, bei der er dann, eben wegen der Verletzung, nicht starten kann. Einen, der „Horror“ davor hat, dass er eines Tages, wenn er denn mal aufhört mit diesem Wahnsinn, sagen muss, die 8.706 Punkte von Olympia in Atlanta sind seine Bestleistung – und der ganz genau weiß, dass ihm das nicht genügen wird: mit 21 Jahren schon den Zenit erreicht zu haben. Und der sich deshalb unablässig weiter schindet und quält, um „irgendwann mal wieder in diesen Bereich“ zu kommen und möglichst darüber hinweg. Einen, der ums Verrecken die Hoffnung nicht aufgibt, dass ihm das doch noch einmal gelingen kann, auch wenn die Ärzte ganz anderes sagen und man sich selbst nur noch fragen kann: Warum, verdammt noch mal, hört er nicht auf?

Bohnenkamp spürt dieser Frage nach, eindringlich und leise, weil er dem Protagonisten Zeit lässt zum Erzählen – und für Zwischentöne, das Schweigen, das manchmal mehr sagt als Worte. Ein ungewöhnlich offener, authentischer und auch persönlicher Film ist es geworden, entstanden aus einer Nähe und Vertrautheit, die gewachsen ist in all den Jahren, in denen der Filmemacher den Athleten begleitet und beobachtet hat, egal ob bei Wettkämpfen rund um den Globus oder in Arztpraxien und Rehazentren. Dass Bohnenkamp dabei selbst in den innigsten Momenten niemals die journalistische Distanz verliert, unterstreicht nur die Meisterschaft des mehrfach mit Preisen dekorierten Filmemachers des SWR in Baden-Baden. „Eines Tages“, sagt Friedrich Bohnenkamp in seinem Film, „erwischst du dich beim Daumendrücken, was dir einigermaßen peinlich ist.“ Das muss es nun wirklich nicht.