Kämpfen bis in den Tod

■ Ein Karate-Großmeister verrät den richtigen Moment zur Verteidigung. Bremen lauscht und übt schon mal vor der Europameisterschaft 2003

Ab und an lässt sich der alte Mann auf einen orangenen Plastikstuhl nieder und verfolgt die Bewegungen der weiß uniformierten Schüler. In den vergangenen dreißig Minuten hat Tatsuo Suzuki am Bremer Flughafen ausgecheckt und in der Umkleide des TV Eiche Horn seinen schwarz-weiß versetzten Gürtel geknotet, der über die vielen Jahre schon ganz aufgerieben ist.

Als der 73-Jährige aufsteht und die Hallenmitte betritt, hocken sich die siebzig Karateka in den Schneidersitz, schweigend, die Augen auf den Meister gerichtet. Suzuki fordert einen 1,80 Meter großen Schwarzgurt auf. Er soll Suzuki mit einem Schlag zur Körpermitte angreifen – ihn, der einen Kopf kleiner ist und fast gebrechlich wirkt, sodass man ihm höflich die Tür aufhalten würde. Eine flinke Hüftdrehung lässt den kraftvollen „Yakuzuki“-Schlag ins Leere gehen. Der Japaner mit grauem Flaum auf dem Glatzkopf schmunzelt, und über sein schmales Gesicht ziehen sich Lachfalten.

Suzuki ist Großmeister des Wado-Karatestils und seit 60 Jahren im Training – als er noch jung war jeden Tag bis zu zehn Stunden. Laufen mit Schuhen aus Eisenguss, die Kerzenflamme mit dem Luftzug des Faustschlages löschen, üben bei Schnee und Regen – für Suzuki war Wirklichkeit, was man heute aus den schlecht synchronisierten Karatefilmen kennt. „Heutzutage trainiere ich zwei Stunden täglich“, erklärt Suzuki, „nur der Tod wird mich zur Ruhe setzen.“ So lange hat er noch eine Mission zu erfüllen. Die Vermittlung der reinen Lehre seines verstorbenen Karate-Meisters Hironori Ohtsuka. Ohtsuka begründete 1934 den Wado-Stil, der heute zu den vier großen Strömungen des Karate zählt.

Dies verdankt Ohtsuka vor allem seinen Schülern, die er als Lehrmeister in die Welt schickte. Unter den zahlreichen Karate-Botschaftern fand sich auch Suzuki, der 1956 die Tür seines „Dojo“ – das ist das Wort für Schule – in London öffnete. Heute ist Suzuki der alleinige Erbe. Das verpflichtet.

Erstmals verbeugt sich Suzuki auch vor den Karateka des TV Eiche Horn und begrüßt zu einem dreistündigen Seminar. Dort schwitzt man zwar schon seit 17 Jahren nach Wado-Manier. Jedoch sorgte ein vor zwei Jahren verstorbener Weggefährte Suzukis von Hamburg aus für das traditionelle Training. „Jetzt müssen wir auf eigenen Beinen stehen“, sagt Elke von Ösen vom TV Eiche hinzu. Von Ösen gründete die Karatesparte im TV Eiche Horn, die heute 100 Mitglieder im Alter von sechs bis 60 umfasst und den fünften Platz auf einer Weltmeisterschaft verbuchen kann. Sie selber ist Deutschlands hochrangigste Wado-Karateka.

Zurzeit begleitet von Ösen die Endphase der Vorbereitung für die Karate-Europameisterschaft 2003 in Bremen. „Dann wird die Weltelite in der Stadthalle zu sehen sein“, schwärmt Frank Miener, Pressesprecher zur EM 2003.

Für Suzukis Lehrgang streifen die Organisatoren ihre weiße Karatekluft über: der Großmeis-ter demonstriert den richtigen Zeitpunkt zur Verteidigung. Suzuki wird mit einem Messer attackiert. Noch bevor der Angreifer seinen vorderen Fuß aufsetzt, hat Suzuki seinen Schwerpunkt verlagert und lässt den Schwung der Attacke in einen Wurf fließen. Die eigene Kraft bringt den Übungspartner zu Boden, entwaffnet durch einen Hebel des Bewegungsästheten. „Gelassen passt er den richtigen Moment zur Bewegung ab. Wie ein Torrero beim Stierkampf“, kommentiert Christoph Thiele, Erwachsenentrainer vom TV Eiche.

Das Alter scheint für Karate unwichtig zu sein, Herausforderungen gibt es immer. „Viele sehen nur den Kampf. Das ständige Training des Geistes aber ist wichtig. Denn im Alter schwindet die Kraft des Körpers, und dann sind viele leer“, spricht Suzuki, der sich der Zen Meditation hingibt.

Nachdem Suzuki zur Partnerübung aufruft, nimmt er nochmals Platz auf dem orangefarbenen Stuhl. Am nächsten Morgen sitzt er wieder im Flugzeug Richtung London, denn dort warten am kommenden Mittag die Schüler vor seinem „Dojo“.

Daniel Toedt