Auf die Grenze kommt es an

Berliner Langzeitstudie zeigt: Trennungskinder sind häufiger konfliktscheu und haben größere Schwierigkeiten, Bindungen aufzubauen. Wissenschaftler warnen jedoch vor Pauschalurteilen

von ANDREA SCHNEIDER

„Bildung zeigt sich bei Mann und Frau darin, wie sie sich streiten“, vermutete einst George Bernhard Shaw. Doch Bildung allein bewirkt nicht unbedingt das Selbstvertrauen, welches nötig ist, Konflikte durchzustehen.

Kurt Kreppner vom Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung hat jetzt herausgefunden, dass sich Kommunikationsmuster und Beziehungsverhalten zwischen Kindern und allein Erziehenden sehr stark von vollständigen Familien unterscheiden. Die Konfliktfähigkeit der Trennungskinder ist häufig weniger ausgeprägt, ihr Selbstvertrauen ist geringer, sie neigen eher zu Depressionen und haben größere Schwierigkeiten, dauerhafte Bindungen aufzubauen.

Kreppners Erkenntnisse gehen zurück auf die Langzeitbegleitung von insgesamt 67 Berliner Familien mit jeweils zwei Kindern. Mehrere Jahre lang haben er und sein Team die Familien immer wieder besucht und typische Situationen wie den Streit um ein nicht aufgeräumtes Zimmer auf Video aufgenommen.

„Am schwierigsten ist es, in die Familien hineinzukommen“, sagt Kreppner. Und so gibt er sich auch sehr zurückhaltend mit dem Wort repräsentativ: Denn alle Familien und allein Erziehende, die an dem Projekt teilnahmen, haben sich selbst gemeldet. Allein erziehende Väter oder auch gleichgeschlechtliche Paare waren nicht darunter. „Leider“, meint Kreppner.

Dennoch glaubt er, in den Familien „ein Beispiel der Westberliner Gesellschaft“ gefunden zu haben. 105 Familien oder allein Erziehende mit ihren Kindern hatten sich 1989, als das Projekt mit den Vorstudien begann, beteiligt. 67 blieben bis 1994, dem Abschluss der Familienbesuche, der Studie treu. Herausgefunden hat Kreppner aber, dass sich die „Aussteiger“ in ihren Kommunikations- und Beziehungsstrukturen nicht von denen unterschieden haben, die sich bis zum Ende der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatten.

Doch es gibt immer mehrere Möglichkeiten, vom Pferd zu fallen. So warnt Kreppner vor Pauschalurteilen: Nicht jedes Trennungskind ist kommunikations- oder beziehungsgestört. „Es gibt viele allein Erziehende, die das wunderbar machen.“ Genauso wie es vollständige Familien gibt, die „im Zusammenleben komische Konstellationen entwickeln“. Doch die Gefahr, Störungen zu entwickeln, ist bei Trennungs- beziehungsweise Scheidungskindern größer.

So konnten die Forscher des Max-Planck-Instituts beobachten, dass es in „intakten Familien“ oft heftiger kracht als in den so genannten Patchwork- oder Restfamilien. Mütter in funktionierenden Beziehungen scheuen den Konflikt mit ihren Kindern nicht, sie spielen ihre überlegene Erfahrung aus und pochen auf das Einhalten von Regeln. Im Streit geht es um die Sache – die Beziehung zwischen Mutter und Kind wird dabei nicht in Frage gestellt.

Solch eine Haltung vermittelt nach Auffassung von Kreppner „Orientierung und schützt vor Überforderung“, selbst wenn sie „auf den ersten Blick das Wohlbefinden des nach Selbstständigkeit strebenden Kindes zu beeinträchtigen scheint“.

Kinder aus gescheiterten Beziehungen berichten hingegen von einer größeren Harmonie. Sie fühlen sich früher als vermeintlich erwachsene Partner akzeptiert. Das mag zunächst schmeicheln, doch spätestens in der Pubertät setze eine Überforderung der Kinder ein, sagt Kreppner. Die Kinder pochen auf ihre Rolle als Kind und das Einhalten der Generationengrenze.

Sie werden von den Müttern jedoch kaum noch aus dem partnerschaftlichen Beziehungsniveau herausgelassen, das neben den eigenen Problemen und Belastungen gleichsam eine erhöhte Anteilnahme an den Lebensproblemen der Mutter bedingt.

Aufgefallen ist den Wissenschaftlern, wie stark bei Streitgesprächen zwischen allein Erziehenden und ihren Kindern die Beziehung zwischen Mutter und Kind thematisiert wird. Der Sachkonflikt, beispielsweise das nicht aufgeräumte Zimmer, kann zur Marginalie werden.

An seine Stelle tritt für die Kinder die Angst, dass die Mutter bereit sein könnte, die Beziehung zu lösen. Dass so etwas möglich ist, haben sie bereits mit der Trennung ihrer Eltern erfahren. Die Kinder landen in einer Dilemmasituation. Sie sind überfordert, die partnerschaftliche Anteilnahme am Leben der Mutter zu erfüllen und leben gleichsam in der Furcht vor einem weiteren Verlust, wenn sie selbst versuchen, Grenzen zu setzen.

Immer mehr Kinder wachsen in Rest- und Patchworkfamilien auf. Die Gefahr, dass Kinder zunehmend Konflikt- oder Bindungsängste entwickeln, ist natürlich gegeben.

Doch Wissenschaftler warnen gleichsam vor dem Schwarzsehen. „Das Ehesystem kann sich in unserer Gesellschaft auflösen, das Eltern-Kind-System nicht“, schreibt die Familienforscherin Rosemarie Nave-Herz. Vielmehr müsse es nun darum gehen, die Frage, was nach der intakten Familie komme, zu beantworten und allein erziehende Eltern so zu entlasten, dass ganz persönliche Konflikte nicht die Eltern-Kind-Beziehung zu überfluten drohen.

Doch hier ist die Politik gefragt. Immer lauter werden die Forderungen nach einer Sozial- und Familiengesetzgebung, die ihren Namen verdient und Eltern ermöglicht, ihren Aufgaben unbelasteter nachzugehen.

Mit seiner Studie warnt Kurt Kreppner vor den Gefahren, die sich jungen Menschen bei der Ausbildung sozialer Kompetenzen in den Weg stellen können. Unbeantwortet aber ist noch die Frage, welche Beziehungsmuster sich ausbilden können, wenn Kinder mittels Masturbationskabinen und moderner Befruchtungstechniken gezeugt werden. Ein Kind, um die innere Leere der Eltern zu füllen, als Pfand und Siegel einer Beziehung oder als Trophäe des vermeintlichen Glücks. Was bleibt, ist die Sorge, dass Kinder noch früher parentifiziert, also in die Rolle gleichwertiger Erwachsener gedrängt werden.

Dass Wunschkinder nicht immer etwas zu lachen haben, zeige, so Kreppner, das allerdings hinkende Beispiel China. Mit der staatlich verordneten Ein-Kind-Familie habe sich eine Gesellschaft mit vielen verhätschelten kleinen Königen herausgebildet – verbunden mit all den psychischen Problemen, die ein Übermaß an Aufmerksamkeit mit sich bringen kann.

Doch solche Untersuchungen sind noch Zukunftsmusik. Kurt Kreppner bleibt zunächst nur der Appell, die Grenze zwischen den Generationen zu wahren, damit Kinder einen eigenen Standpunkt finden und Selbstvertrauen in die persönlichen sozialen Fähigkeiten entwickeln können. Oder, um es mit dem Schriftsteller Jean Paul zu sagen: „Kinder und Uhren dürfen nicht ständig aufgezogen werden. Man muss sie auch gehen lassen.“