„Jünger, geht weg!“

Warum die Isländer plötzlich anders küssen wollten und Figuren gern für Personen halten. Ein Gespräch mit Gudbergur Bergsson

Interview WOLFGANG MÜLLER

Gudbergur Bergsson, Jahrgang 1932, zählt zu den wichtigsten Autoren der isländischen Moderne. Er lebt in Madrid und Reykjavík und hat seit 1961 zahlreiche Romane, Gedichtbände, Kurzgeschichten und ein Kinderbuch veröffentlicht. Als Übersetzer übertrug er unter anderem die Werke von Gabriel Garcia Marquéz ins Isländische. Im Steidl Verlag erschienen zuletzt in deutscher Übersetzung seine Romane „Der Schwan“ und „Liebe im Versteck der Seele“. Letzterer schildert die Beziehung zweier verheiratener Männer, die sich heimlich in einem Kellerzimmer zu sexuellen Stelldicheins treffen.

taz: Ihr neuester Roman spielt sich hinter den Kulissen des öffentlich privaten Lebens ab. Ist es sozusagen ein Blick in das völlig private Island?

Gudbergur Bergsson: Ich denke nicht, dass das Thema typisch isländisch ist. Was da geschieht, geschieht überall. Eine Eigenschaft des Menschen ist ja, etwas in sich zu entdecken, das er noch nicht kannte, das aber eigentlich schon immer da war. So versucht er Erklärungen zu finden, warum es überhaupt da ist. Am Anfang bekämpft er es, doch dann gibt er nach, Stück für Stück. Das hat Folgen für ihn. Er fürchtet, sein Leben zu zerstören, auch das seiner Familie. Doch der Erkenntnisprozess lässt sich nicht stoppen. In der alten isländischen Literatur endet so etwas tragisch, die mittelalterlichen Sagas sind alles Tragödien. Aber in meinem Buch handelt es sich weniger um eine Tragödie als um eine Art Selbstzerstörung.

Ihr Protagonist schreibt seine Gedanken in ein privates Tagebuch, weil er sich seinem Liebhaber nicht mitteilen kann. Hat Schreiben etwas damit zu tun, sich unverstanden oder missverstanden zu fühlen?

Das Buch ist in der ersten Person geschrieben, um den Hauptcharakter näher an den Leser zu bringen. Und um den Eindruck zu erwecken, dies sei ein Bekenntnis. Denn auf eine Weise sind ja alle Tagebücher Bekenntnisse. Aber gleichzeitig sind sie auch ein Versteck, sie verstecken die Person. Weil sie nicht die Wahrheit zeigen, sondern diese verbergen. Literatur wird oft nicht geschrieben, um verstanden zu werden, sondern um interpretiert zu werden.

Und Ihr Buch funktioniert ähnlich?

Sicher. Und wenn man ein Tagebuch als Grundlage wählt, ist man viel freier, als wenn man eine Novelle schreibt. Im Tagebuch kann man alles verwenden, was man möchte. Und vieles davon ist für den Leser nicht sehr verständlich. Aber Bekenntnisse sind immer schwierig zu verstehen oder nachzuvollziehen.

Ihr deutscher Übersetzer meinte, Ihr Buch handele von einer Liebe, die in den Keller abgedrängt ist.

Der Keller ist vielleicht kein Versteck in diesem Sinne. Man kann den Keller auch als das Unterbewusstsein sehen, ein Ort, an dem alles geschehen kann. Wir sind Gefangene und doch auch frei.

Es gibt ja dieses Klischee, dass jeder zweite Isländer ein Schriftsteller ist. Was geschähe, wenn alle Isländer ihre Tagebücher veröffentlichten?

Ich denke, dass nicht nur in Island jeder schreiben möchte. Jeder möchte sich mitteilen, ist ein Geschichtenerzähler oder auf eine Weise Schriftsteller. Aber um bekannt zu werden, um wer zu sein, muss man in Island so etwas wie eine ewig gültige Wahrheit verfassen. In Europa hat man nicht so einen großen Glauben an das geschriebene Wort wie in Island. Das Schlechte an den isländischen Tagebüchern oder Biografien ist allerdings, dass sie nicht die Wahrheit erzählen. Sie verstecken mehr, als sie zeigen. Sie möchten, dass der Leser sie mag. Die meisten Isländer fürchten sich vor der Gesellschaft, denn die ist sehr, sehr klein. Ich glaube, mein Buch unterscheidet sich da sehr, weil es in ihm keine Angst gibt und weil ich mich nicht beim Leser beliebt machen möchte. Ich möchte den Leser lieber zum Nachdenken bringen oder ihn stören.

Stören?

Ja, das ist sehr wichtig, gerade in Island. Die meisten isländischen Schriftsteller bauen eine Art Schutz um sich herum, aus Freunden oder politischen Parteien. Deshalb verstehen sie auch kein Individuum wie mich, hinter dem nichts steht. Ich komme weder aus einer intellektuellen Familie noch habe ich je nach Jüngern gesucht. Wenn ich Christus wäre und die Apostel kämen, würde ich nur sagen: Bitte geht weg, lasst mich allein! Stellen Sie sich vor, Jesus hätte so etwas gesagt, als er über das Meer ging und die Jünger ihm mit dem Boot folgten. Dann zieht ein Sturm auf. Ich hätte das Boot mit den Aposteln einfach sinken lassen und wäre weitergegangen, bis ans Land (lacht). Das ist wirkliche Freiheit! Bei mir wären alle ertrunken.

Ziemlich grausam.

In mir ist nichts Katholisches und nichts Protestantisches. Ich bin kein Missionar. Ich schreibe nur für mich und für meine Hölle.

In kleinen Gesellschaften nehmen die Menschen vielleicht alles sehr persönlich und suchen nach persönlichen Elementen?

Ja, wenn sie Gedanken nicht abstrahieren können. Sie suchen nach Entsprechungen in der Gesellschaft. In den Sagas wird von wirklichen Menschen erzählt. Auch Laxness hat existierende Personen beschrieben. Wenn man seine Figuren aufmerksam studierte, konnte man sie im wirklichen Leben treffen. Die Menschen in meinen Büchern sind von mir kreierte, literarische Figuren, die ihre eigenen Gesetze haben. Viele Leser in Island sind das nicht gewöhnt. Die Leser in Reykjavík mochten mich nicht, weil sie sich in meinen Büchern nicht wiedergefunden haben.

Sie beschreiben Island als Ort, an dem alles an seinem Platz ist und nichts zusammenpasst, aber doch irgendwie zusammenhält. Welchen Klebstoff verwenden die Isländer?

Da gab es einen Bruch in den Dreißigerjahren, als die Amerikaner nach Island kamen. Auf einmal gab es mehr Amerikaner als Isländer. Wir schämten uns für unsere Kultur, Sitten und Gebräuche. Die Art und Weise, wie wir aßen, wie wir uns anzogen, wie wir uns begrüßten, wie wir uns küssten. Das alles fanden die Amerikaner schrecklich. So haben wir unser Leben völlig verändert. Aber jetzt gibt es in ganz Europa eine Tendenz, die alten Identitäten wieder zu entdecken. Ich glaube, der Prozess der Amerikanisierung ist vorbei. Europäische Länder finden ihre Identität wieder. In Deutschland etwa werden zunehmend Bücher aus den nordischen und den slawischen Ländern übersetzt. Die große Tradition, dass beide Kulturen über Deutschland nach Europa kommen, wird wiederbelebt. Für mich ist das ein Zeichen, dass Deutschland wieder seine Identität findet.

Gehört das Interesse an den alten Mythen, den Elfen und Zwergen dazu?

In Island wurden die Elfen nicht wie in Deutschland sorgfältig studiert. Sie werden nur oberflächlich behandelt und als eine Art Touristenattraktion gebraucht. Die Elfenwelt könnte man als ein utopisches Gesellschaftsmodell bezeichnen. In ihr zeigt sich der Traum armer Leute in Island, eine Welt der Gerechtigkeit und des Lichts im Winter. Immer ist dort Sommer, das Gras ist immer grün. Die Menschen glaubten, dass im Zentrum des Landes ein Tal existiere, das einem beim Betreten die ewige Jugend gibt und wo junge Mädchen und Männer herumspringen. Ich glaube, das ist eine Reminiszenz an die Zeit, als wir Isländer noch in Europa lebten, ja es geht wohl bis nach Indien zurück: Das Paradies ist dort, wo du es nicht erwartest. Im Zentrum des Vatnajoküllgletschers. Aber zugleich gibt es auch einen Bezug zur Realität. Weil es unter den Gletschern tatsächlich Hitze und heißes Wasser gibt. Auf Island lebt die Erde, was man an den vielen Erdbeben und Vulkanausbrüchen spüren kann.

WOLFGANG MÜLLER, 44, lehrt an der Hamburger Hochschule für Bildende Künste. Am Mittwoch moderiert er die „Große Stimmgabelshow“ im Haus der Berliner Festspiele. GUDBERGUR BERGSSON liest dort am Dienstag