Erkenntnis, einen Wimpernschlag lang

■ „Schrägspur“: In ihrem „Dritten Umbau“ zeigt die Galerie der Gegenwart Videos von Bruce Naumann, Olaf Breunung und Rosemarie Trockel aus der eigenen Sammlung

Rinde Eckert heult lautstark durch den zweiten Stock der Galerie der Gegenwart. Sein Kopf dreht sich, aufrecht und kopfüber, links und rechts herum, im Fernseher und auf die Wand projiziert.

Der Geräuschpegel ist markanter Ausdruck des dritten Umbaus der Galerie der Gegenwart, in dessen Verlauf unter dem Titel Schrägspur: Videoinstallationen aus der Sammlung über zwanzig Räume rearrangiert wurden. Die Videoinstallation Anthro/Socio des Amerikaners Bruce Nauman, die 1992 für den damals noch in Planung befindlichen Neubau eingekauft wurde und für die Eckerts Kopf routiert, zählt zum Grundstock dieser hauseigenen Sammlung, die auf mittlerweile über 300 Werke angewachsen ist.

Sechs thematische Komplexe strukturieren Die Arbeitsschwerpunkte der Videokunst lassen sich dabei in sechs thematische Kom-plexe unterteilen: Die familiären und gesellschaftlichen Normen stehen im Mittelpunkt der oft masochistisch wirkenden Arbeiten von Mike Kelley und Paul McCarthy - als Obsession/Remake betitelt. Ihre Arbeit Fresh Acconci (1995), die eine Arbeit von Vito Acconcis von 1971 nachstellt, spielt auf die Anfänge des Genres an, die meist performativ und dokumentarisch waren. Zudem verweigerten sie sich den Erzählformen des „Muttermediums“ Fernsehen.

Die aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle allerdings konzentriert sich auf Arbeiten der Neunziger: Die poppigen Videos von Pipilotti Rist, eine mit Aufnahmen von verlassenen Sowjet-Kasernen kontrastierte Dokumentation über BDI-Chef Hans Olaf Henkel von Andree Korpy und Markus Löffler, die Suche nach kultureller Indentität bei Tamara Grcic, Shirin Neshat und Candice Breitz. Werke wie Ich glaube Gefangene zu sehen (2000) von Harun Farocki und Stasi City (1997) der Schwestern Jane & Louise Wilson schneiden schließlich auch derzeit viel diskutierte Themen wie Kontrolle und Überwachungsapparate in der Gesellschaft an.

Die Räume der Galerie erweisen sich für die verschiedenen Präsentationsformate der Videofilme, Projektionen und Installationen als außerordentlich geeignet, und Dan Grahams Videopavillon lädt wie eh und jäh zum Umrunden oder Sitzenbleiben ein. Videolängen von 60 Minuten abwärts – viele unter zehn Minuten – machen die Ausstellung auch an einem Nachmittagsbesuch sehenswert. Viele Ext-rawände wurden eingezogen, Fernseher auf spröden Spanholzsockeln platziert und die Sitzmöbel auf die Inhalte abgestimmt. So lassen sich Tracy Emins Entertainment Why I never became a dancer oder Johan Grimonprezs Klassiker Dial H-I-S-T-O-R-Y auf bequemen Stühlen wesentlich leichter genießen als etwa Werke von Olaf Breunung (hierfür lehne man sich an die Wand) und Rosemarie Trockel (am besten im Stehen).

Letztere presst den Moment erhabener Erkenntnis in einen Sekundenbruchteil. Ein Wimpernschlag genügt, um das entscheidende Ereignis im Film zu verpassen. Wie im richtigen Leben.

Christian T. Schön

bis auf weiteres in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle. Geöffnet Di–So 10–18 Uhr, Do bis 21 Uhr