zukunft des nahverkehrs
: OLIVER SCHÖLLER über den Unsinn einer Kosten-Nutzen-Rechnung

Wohlfahrtsstaat und ÖPNV in der Krise

„Fahrt alle Taxi!“ war der Titel eines Kommentars von Andreas Knie, Techniksoziologe an der Technischen Universität Berlin, an dieser Stelle im Februar, anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Berliner U-Bahn. Die These: Die neue, individualisierte Gesellschaft benötigt keine Massentransportmittel mehr.

Die taz diskutiert in Reaktion auf diese streitwürdige These – immer samstags – die „Zukunft des Nahverkehrs“. Vorige Woche schrieb Michael Cramer über gute Infrastruktur und schlechte Politik.

Die Entstehung des ÖPNV ist aufs Engste verknüpft mit der Herausbildung des modernen Wohlfahrtsstaates und sollte auch vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine gradlinige Entwicklung. Vielmehr wurden wohlfahrtsstaatliche, am Gemeinwohl orientierte Phasen immer wieder abgelöst von Zeiten, die durch privatwirtschaftliche Partikularinteressen dominiert waren.

Daher ist es nun kein Zufall, dass mit dem ÖPNV ein Bollwerk staatlicher Überregulierung zu einem Zeitpunkt zur Disposition steht, wo ökonomische Effizienzkriterien den Wohlfahrtsstaat zu umfangreichen Reformmaßnahmen drängen. Freilich, im Rahmen kapitalistischer Vergesellschaftung muss „alles Stehende und Ständige verdampfen“ (Marx/Engels). Entscheidend aber scheint mir, in welcher Form es anschließend wieder kondensiert.

Diese Frage lässt sich nicht rein wissenschaftlich beantworten. Sie wird politisch entschieden! Zu Recht beschreibt der Techniksoziologe Andreas Knie die Entstehung des ÖPNV als das Produkt einer Wirtschaftsentwicklung, die es notwendig machte, Menschenmassen in Großgefäßen zu den jeweiligen industriellen Produktionsstandorten zu transportieren. Der ÖPNV war damals jedoch nicht allein das Ergebnis ökonomischer Notwendigkeiten, sondern überdies das historische Produkt eines Klassenkompromisses.

Die uns heute als untrennbare Einheit erscheinende Verbindung von Staat und ÖPNV, ist nämlich ein relativ junges Phänomen: Noch zu Beginn des Schienenverkehrs im 19. Jahrhundert handelte es sich um ein rein privates Unterfangen. Davon zeugen heute noch die damals als Kathedralen des Kapitalismus gefeierten luxuriös gestalteten Bahnhöfe. So etwa die jüngst frisch renovierte Central Station von New York.

Ihr Ambiente wurde von wenigen teuer bezahlt. Eine gesamtgesellschaftliche Verallgemeinerung solchen Prunks passte jedoch in keine wirtschaftliche Kosten-Nutzen-Rechnung. Daraufhin übernahm in den urbanen Zentren des 20. Jahrhunderts der Staat mehr und mehr die unrentierlichen Investitionen in eine sich steigernde Mobilität.

Eine Ausnahme bildet die Moskauer U-Bahn. Dort durfte das Volk, Stalin sei’s gedankt, am goldbestückten Interieur des Feudaladels teilhaben. Doch in der Regel ging die Verbreitung des Schienenverkehrs auf Kosten der Ausstattung: Der Komfort wurde in das 1.-Klasse-Abteil verbannt. Aber die Arbeiterschaft selbst ließ sich nicht länger in Viehwaggons zu ihren Arbeitsstätten transportieren. Sie erstritt sich eine gesellschaftliche Teilhabe in der 3. und später 2. Klasse.

Die unterschiedliche Ausgestaltung des öffentlichen Raums durch den staatlich finanzierten Personenverkehr ging zu keiner Zeit in einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung auf. Sie war vielmehr immer das Ergebnis sozialer Kämpfe, die in der Vergangenheit an unterschiedlichen Orten verschieden ausfielen und dementsprechend divergierende Ergebnisse zeitigten. In Großbritannien etwa erfolgte, nach der gewaltsamen Bekämpfung der Gewerkschaften in den 80er-Jahren, eine flächendeckende Privatisierung des ÖPNV. Die hatte Lohndumping und entsprechende soziale Verwerfungen zur Folge. Durch die Stillegung unrentabler Strecken wurden gewaltige Lücken in das Versorgungssystem gerissen. Zudem stiegen die Unfallquoten auf den reparaturbedürftigen Strecken dramatisch an. In Schweden wiederum bewirkte ein sozialstaatliches Arrangement eine Reform des ÖPNV, die sich deutlicher an den Bedürfnissen der Bevölkerung orientiert.

Insbesondere in Berlin steckt der ÖPNV in der Krise. Ob und wie die öffentlichen Busse und Bahnen aus dieser Krise herauskommen, darüber muss, wie in der Vergangenheit, die öffentliche Auseinandersetzung entscheiden. Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen ist die Frage zu beantworten, ob wir uns weiterhin ein auf solidarischer Teilhabe beruhendes Verkehrssystem leisten wollen.

Oder wollen wir die mit seiner Abwicklung einhergehenden sozialen Missstände in Kauf nehmen? Damit sind Themen angesprochen, die in letzter Zeit von der politischen Tagesordnung verschwunden waren und die, indem sie über die rein ökonomische Integration hinausweisen, auch den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft berühren.

Der Autor ist Soziologe und Forscher in der Projektgruppe „Mobilität“ am Wissenschaftszentrum Berlin.