Von Finnland wollen alle lernen

■ GEW-Chefin Anna Ammonn und Staatsrat Reinhard Behrens sprechen im taz-Streitgespräch über mehrgliedrige Schulsysteme, einheitliche Standards und die richtigen Konsequenzen aus Pisa

Hamburger Schulpolitik ohne Anna Ammonn, das ist schwer vorstellbar. Doch die streibare GEW-Chefin geht. Anlass für uns, sie noch einmal mit ihrem langjährigen Kontrahenten, dem neuen Schulbehördenstaatsrat und ehemaligen Sprecher des Deutschen Lehrerverbands, Reinhard Behrens, streiten zu lassen. Ammonns Rückzug hat übrigens satzungsgemäße Gründe. Nach dem Rotationsprinzip wird die GEW-Spitze alle sechs Jahre neu besetzt. Die Nachfolge tritt heute die Berufsschullehrerin Stefanie Odenwald an.

taz: Herr Behrens, was stört Sie an der Politik der GEW?

Reinhard Behrens: Lehrergewerkschaften sind in einer ganz anderen Position als Industriegewerkschaften. Betriebe haben bestimmte Messzahlen für ihren Erfolg, wie Umsatz und Wertschöpfung. Für Schulen ist dies viel schwieriger. Jede Lehrergewerkschaft ist deshalb gut beraten, wenn sie jene Messwerte, die in der Gesellschaft anerkannt sind, akzeptiert - auch externe Evaluation.

Spielen Sie auf Pisa an?

Behrens: Ja, zum Beispiel. Auch Schulen sollten öffentlich darstellen, was sie leisten, und auf die Abnehmer zugehen. Ein Kernbegriff ist für mich die Erfüllung von Standards. Auch Gewerkschaften müssen davon überzeugen wollen, dass die Ergebnisse von unseren Schulen anerkannt werden, damit uns die Gesellschaft auch weiter möglichst viele der knappen Mittel gibt. Da zählen zum Beispiel Rechtschreibung, brauchbares Englisch und mathematisches Verständnis.

Anna Ammonn: Um es kurz zu machen: Es hat von der GEW keinen Pisa-Boykott-Aufruf gegeben. Es gab an den Schulen eine Testmüdigkeit, das haben wir zurückgemeldet. Es hat, das gebe ich zu, in der GEW in Verbindung mit Pisa aber auch einen Bewusstseinswandel gegeben. Wir haben keine Angst vor Pisa. Die Studie gibt uns Rückenwind für alle unsere bildungsreformerischen Vorstellungen. Es ist aber doch ein Fakt, dass Ihre Behörde keinerlei ernstzunehmende Konsequenzen aus Pisa zieht.

Behrens: Dazu brauchen wir erst die Hamburger Ergebnisse.

Ammonn: Die Ergebnisse der internationalen Pisa-Studie liegen seit dem 4. Dezember vor. Es herrscht der Eindruck, dass die ausgesessen werden sollen, bis die nationale Studie da ist, um dann wieder in ein kleinkariertes Bundesländerhickhack zu verfallen. Sie haben externe Evaluation verlangt. Pisa ist die größte externe Evaluation, die wir je hatten.

Behrens: Noch ein Wort zum Thema Standards. Wenn wir Standards setzen, ist es eine große Erleichterung für den einzelnen Lehrer. Die Schulbehörde hat unter rot-grüner Führung das Gegenteil gemacht. Sie hat mit dem Köder der „Autonomie“ die Verantwortung für die Lehrpläne an die einzelnen Schulen nach unten delegiert und den Kollegien massive Mehrarbeit aufgebürdet. Übrigens: Autonomie des Weges und des Zieles kann es nicht geben. Und die GEW hat das mitgetragen.

Ammonn: Das ist Unsinn. Wir haben bei allen Reformen, die mit Mehrbelastung verbunden sind, einen Ausgleich angemahnt. An dieser Stelle haben wir wirklich gea-ckert.

Behrens: Aber im Prinzip war doch politisch klar: die GEW klagt über materielle Defizite, aber unterstützt die Linie der Schulbehörde.

Ammonn: Dass müssten Sie Frau Raab mal erzählen. Die würde lachen. Es stimmt, dass bildungspolitische Maßnahmen von Rot-Grün uns zum Teil sehr viel näher waren als die Ihrigen. Das wird erst im Nachhinein wirklich deutlich. Wir haben die Reform der Lehrpläne begrüßt. Wir haben aber gerade auch an dieser Stelle gesagt, dass dies zusätzliche Arbeit bedeutet, die berücksichtigt werden muss. Größere Selbständigkeit führt zu größerer Arbeitsbelastung, die anerkannt werden muss – auch von Ihnen. Wenn Sie nun aber die Selbständigkeit zurücknehmen, um die Lehrer angeblich vor Belastung zu schützen, finde ich das falsch. Pädagogische Autonomie ist absolut notwendig in dieser Zeit. Schule und Pädagogik müssen vor Ort weiterentwickelt werden. Mit einer Rückkehr zur Zentralisierung werden Sie scheitern.

Welche Gefahr liegt in Standardisierung?

Ammonn: Es gibt die Erkenntnis, dass Schulentwicklung vor Ort zu einer erheblichen Steigerung der Professionalität des Lehrerberufes führt. Darüber gibt es einen breiten Konsens. Lehrer müssen in ihrer Professionalisierung gefördert und mit Weiterbildung unterstützt werden. Und nicht gegängelt.

Behrens: Ich finde es eine traurige Verschwendung von Ressourcen, was da mit den Rahmenplänen passierte. Jede einzelne Schule sollte ihr eigenes Curriculum entwickeln. Dass es daran wenig Interesse gab, sehen Sie an den Rückmeldungen aus den Schulen zu den Entwürfen der Pläne. Von 800 Lehrer- und Fachkonferenzen haben sich nur 70 gemeldet. Wir werden den Lehrern verbindliche Standards vorgeben, die ihnen die Freiheit lassen, eigene Schwerpunkte und Methoden für ihre Schule in ihrem Stadtteil zu setzen. Ich bin kein Freund der engen Führung. Die Schulen sollen ihre Eigenständigkeit haben. Aber dafür brauchen sie realistische Ziele.

Frau Ammonn, wollen Sie den Ball zurückgeben? Wie belastet die neue Regierung die Kollegien? Ammonn: Auch die schulpolitischen Maßnahmen der neuen Regierung führen zu einer Vertiefung der sozialen Spaltung. Dazu werden drastische Sparmaßnahmen kommen. Wir begrüßen die Einrichtung von Ganztagsschulen und eine bessere vorschulische Förderung, wenn sie denn kommt. Aber die anderen Maßnahmen, die soziale Entmischung schon in der Grundschule durch die Aufhebung der Schulgebietsgrenzen, der Notenzwang in der Grundschule, die Schulzeitverkürzung ohne entsprechende Stützsysteme und ohne seriöse Finanzierung und dann noch die Schließung der Fachoberschulen lässt uns befürchten, dass die Schwächeren vermehrt durch die Maschen fallen.

Behrens: Für die Schulzeitverkürzung gibt es einen hohen gesellschaftlichen Konsens. Ihre Position ist die eines alternden Missionars. Wir haben eine neue Zeit, wir haben einen ziemlich strengen Wettbewerb, die Globalisierung ist nicht an uns vorbeigegangen.

Ammonn: Wir haben nichts gegen eine Schulverkürzung, wenn die vernünftig gemacht wird. Sie aber können sie nur durch Streichung von Förderstunden und größere Klassen finanzieren. Das wird zu verstärkter Auslese und höherer Arbeitsbelastung führen.

Behrens: Um es deutlich zu sagen: Diese Regierung will nicht die Bildungsbeteiligung vermindern. Der Pädagogikprofessor Georg Picht hat 1964 völlig zu Recht vor der Katastrophe mangelnder Bildungsbeteiligung gewarnt. Dies hatte mehr Quantität, mehr höhere Abschlüsse zur Folge, es wird aber auch Qualität gefordert, deren Mangel zeigt Pisa. Insofern sind für mich Picht '64 und Pisa 2001 zwei vergleichbare Katastrophen. Weil die Inhalte so ungenau bestimmt waren, ist auch Schule bei uns eine Sache geworden, die nur geringe Anstrengung erwartet. Das ist etwas ganz anderes in Finnland.

Reden wir jetzt über Pisa. Dort schneiden jene Länder gut ab, die möglichst spät – also nach 9 Jahren Schule – selektieren.

Behrens: Ich finde es witzig, dass bei Pisa immer diese Sache herausgegriffen wird. Es gibt aber noch zwei weitere Parameter: die Frage, ob Standards gesetzt und überprüft werden und die Haltung innerhalb der Länder zur Bildung und schulischer Anstrengung. Wir haben also mindestens ein Dreieck: die Schulformfrage ist nur eine Ecke davon. Es gibt auch prächtige Ergebnisse von gegliederten Schulwesen.

Die gibt es außer bei uns nur noch in Östereich und der Schweiz.

Behrens: Da gibt es noch andere.

Ammonn: Natürlich stellt Pisa noch andere Fragen als die der zu frühen Selektion. Aber diese Frage ist eine ganz entscheidende, auf die Pisa uns stößt. Und Sie blenden das Thema komplett aus.

Behrens: Und Sie haben lange genug mit dem Eintreten für die Gesamtschule das Besparen der anderen Schulformen erleichtert – und ein Tabu auf externe Evaluation gesetzt. Wir müssen über Schulstrukturen nachdenken, gewiss. Aber wir müssen erst einmal eine Tradition der Zielvereinbarung einführen. Die haben wir nicht.

Ammonn: Wir sind gegen externe Evaluation, die nicht erkennen lässt, was sie für die Qualitätsentwicklung der Schule bringt. Und wir sind für eine ausreichende Finanzierung aller Schulformen. Standardisierung droht bei Ihnen eine Rückkehr zur schlichten Anhäufung von Faktenwissen zu werden. Und das ist in der Bundesrepublik absolut überrepräsentiert. Die Förderung der Kompetenz, eigene Lösungen zu finden, ist an unseren Schulen dagegen unterentwickelt. Damit besteht die Gefahr, dass das schulische Lernen zum schlichten „learning for the test“ verkommt.

Behrens: Wir sollten uns hier nicht gegenseitig Popanze vorhalten. Gucken Sie sich den Pisa-Test an. Darin sind intelligente Fragen.

Ammonn: Eben.

Behrens: Wenn „learning for the test“ bedeutet, dass ich im Englischen zum Beispiel den if-Satz kann, dann finde ich das in Ordnung. Wir sollten den Mittelweg wählen und nicht das Lernen von Methoden und Fakten gegeneinander ausspielen.

Ammonn: Die Bildungssysteme der bei Pisa überlegenen Länder sind von unserem so verschieden, dass ich glaube, dass wir hier ganz neu denken müssen. Und zwar in Bezug auf den Umgang mit Vielfalt, der Förderung statt Auslese und der Stärkung von Problemlösekompetenz. Und ich glaube, dass das, was Sie mit Standards meinen, in die entgegengesetzte Richtung geht.

Behrens: Finnland hat eine landeszentrale Prüfung der Lernstände. Ich glaub nicht, dass die da nur unintelligente Fakten abfragen. Davon können wir lernen. Und wenn wir dann wissen, was wir als Ergebnis von Schule wollen, dann können wir uns – mit einem neuen Blick – auch die Schulstrukturfrage stellen.

Interview: Kaija Kutter