Von der Abwesenheit der Dinge

Emil Nolde weg, Ernst Ludwig Kirchner weg, Erich Heckel weg. Am Samstagmorgen fand in Dahlem einer der größten Kunstraube der Nachkriegsgeschichte statt. Doch schon gestern erinnerte im Brücke-Museum fast nichts mehr an den Raub

von WALTRAUD SCHWAB

„Papa, wo ist denn hier eingebrochenen worden?“, fragt eine etwa Achtjährige ihren Vater, der bei der Kasse im Brücke-Museum steht. Niemand wird dem Mädchen antworten. Der Vater weiß es nicht, der Mann an der Kasse hüllt sich in Schweigen, dem Garderobier ist der Mund verschlossen und auch über der Aufsicht im Ausstellungsraum liegt das Siegel der Verschwiegenheit.

Die Ruhe in Dahlem wird durch den echten Samstags-krimi nicht gestört. Auch sieht es hier so aus, als wäre nie was gewesen. Keine Glasscherben auf dem Boden, keine Schramme am Putz, keine leeren Stellen an den Wänden im Museum, dort, wo vorher die Bilder hingen, nicht einmal patrouillierende Polizisten erinnern einen Tag nach dem Kunstraub noch an das Geschehen. Die Neugier am Sensationellen läuft ins Leere. Event-Tourismus macht auf gar keinen Fall Sinn.

Im Brücke-Museum ist eingebrochen worden. In der Morgendämmerung des Samstags sind die Diebe durchs Fenster gekommen und haben, so wird gesagt, in wenigen Minuten die nächsthängenden Bilder mitgenommen. „Neun Stück. Einfach so“, raunt ein Mann, der zu einer schwäbischen Reisegruppe gehört. „Aber doch nicht ‚einfach so‘ !“, widerspricht seine Frau. „Wie denn?“, will er wissen. „Na, mit einer Absicht.“ Schulterzuckend geht er die Treppen runter zu den eigentlichen Ausstellungsräumen, die sich um einen begrünten Innenhof gruppieren.

Der Bauhaus-Tradition ist das 1966 eröffnete Gebäude verpflichtet. Gebaut wurde es, als Karl Schmidt-Rottluff achtzigjährig entschied, dem Land Berlin viele seiner Werke zu schenken. Damit verbunden war der Vorschlag, nicht nur für ihn, sondern für alle Brücke-Mitglieder ein Museum zu bauen. Bewusst wurde dafür ein Ort gesucht, der abseits der Großstadthektik lag. Das hat es den Dieben nun leicht gemacht, zwischen den Kiefern und Birken, die das Haus umgeben, zu verschwinden.

„Haben Sie Fotos von den geklauten Bildern?“, fragt eine Frau in der Eingangshalle. „Nein“, bekommt sie zu hören. „Schade. Über welchen Verlust soll nun mein Herz schwer werden?“ Es gibt auch keine Liste der gestohlenen Werke, die mehrere Millionen Mark wert sind. Nur dass sechs Bilder von Heckel darunter seien, weiß jemand. „Das ist der mit dem rasanten Strich“, sagt die Frau.

Vier Architekturstudenten haben sich 1905 in Dresden zur „Brücke“ zusammengeschlossen: Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Fritz Bleyl. Später kamen noch andere hinzu. Sie wollten aufräumen mit dem tradierten Stil der Akademien, hielten sich nicht mehr an Perspektiven und auch nicht an naturalistische Farb- und Formgebung. Wegweisend gingen sie als Expressionisten in die Kunstgeschichte ein. Ideen für ihre formale Abstraktion holten sie sich auch bei der Kunst der Naturvölker.

Drei alte Damen schlurfen in den abgedunkelten Raum, in dem die Bilder von Emil Nolde aus der Südsee hängen. „Warum ist das hier so dunkel? Wer hat das überhaupt gemalt? Menschenskinder, das ist ja zum Abgewöhnen! Wie heißt das? Tropenwald? Das mit den Eingeborenen am Meer mit der Welle dahinter, dem kann ich was abgewinnen.“ In Rekordzeit haben sie den Raum durchschritten.

In den angrenzenden Räumen mit Werken aller Brücke-Künstler, die in den impulsivsten Farben leuchten, unterhalten sich zwei Frauen. „Unglaublich, dass es Leute gibt, die geklaute Bilder kaufen und in ihren Tresoren parken“, meint die mit dem Schweizer Akzent. Tilman Bassenge, der Präsident des Bundesverbandes Deutscher Kunstversteigerer, hält die Idee, dass hinter allem „ein schrulliger Millionär stecken“ könnte, unterdessen für „eine Mär“. Er geht von „Art-Napping“ aus. Da die Gemälde zu bekannt sind, um sie auf dem Kunstmarkt loszuschlagen, glaubt er, dass die Diebe stattdessen von der Versicherung Lösegeld für die Herausgabe der Bilder erpressen werden.

Am Tisch mit den Katalogen sammelt sich die schwäbische Gruppe zum Weiterziehen. „Die Ganoven nehmen überall überhand“, sagt eine Frau. „Wir waren letztes Jahr in Chicago im Museum“, setzt sie zum zweiten Satz an und treibt bei den Umstehenden die Hoffnung auf eine noch spannendere Gangsterstory in die Höhe. Aber mit „Da hängen Bilder, sag ich Ihnen, gell!“ endet sie schon wieder. Für eine Sekunde blickt sie in die enttäuschten Augen ihrer Zuhörer. Dass es ihr mit diesem kurzen Beitrag gelungen ist, Berlin in mehr als einer Hinsicht in die Zweitklassigkeit zu stoßen, fällt erst kurz danach auf.