Krachts Gespenster

Die Sehnsucht nach dem Begehren: Morgen liest Christian Kracht im Mojo aus seinem jüngsten Roman „1979“  ■ Von Sven Opitz

„Das Sprechen über Inhalte ist zum Scheitern verurteilt. Man produziert immer nur Missverständnisse. Vortäuschen, verstecken, Unsinn erzählen, das sind alles Mechanismen, die noch gut funktionieren“, erklärte Christian Kracht unlängst in einem Interview. Sogar dann, wenn man annimmt, diese Äußerung selbst wäre nur ein Täuschungsmanöver, markiert sie doch den paradoxen Ort literarischer Produktion. Denn Literatur besitzt die Freiheit, nicht entscheiden zu müssen, ob Worte binden oder nicht binden. In ihr geht beides zugleich.

Zur Moderne gehört die Rebellion literarischer Subjekte gegen die Festschreibung des Ich auf eine Position im Sozialen. Sie hegen durchaus den Wunsch, jemand zu sein, aber nicht zu den Bedingungen der anderen. Ob bei Rousseau oder Proust – das Ziel bestand darin, selbst zu sagen, wer man ist.

Heute stellt sich das Problem in verschärfter Form: Suchte das bürgerliche Subjekt die Macht, seinen natürlichen Namen abzulehnen, glaubt das postmoderne Subjekt, zunächst einmal in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Und so unternimmt es, die Sichtbarkeit der eigenen Person erst herzustellen – um dann unzufrieden mit ihr sein zu können. Christian Kracht kennt das Problem. Sowohl in seinen Romanen, als auch in seiner Selbststilisierung entwickelt er Strategien, die es ihm ermöglichen sollen, in einer Welt zu leben, ohne den vollen Eintrittspreis zu zahlen.

Sein Roman Faserland erzählte in dieser Hinsicht eine Geschichte des Scheiterns. Der Ich-Erzähler verfügt zwar über finanzielle Mittel, nicht jedoch über die welterschließende Macht der Benennung. Permanent entschuldigt er die eigene Unfähigkeit, sich sprachlich zu erklären. Umgekehrt ist er auf der Flucht vor den identifizierenden Zuschreibungen der anderen. Von Sylt aus quer durch die Republik treibt es den Ruhelosen, nur um den Bedeutungen zu entkommen, die von seiner Umgebung an ihn herangetragen werden.

Als Niemand sucht er die hedonistischen Orte des Begehrens auf. Doch dort kollabiert er regelmäßig, ein eigenes Begehren kann er nicht artikulieren. Denn ein Begehren erhält man nur auf dem Weg der Identifikation in einer bedeutungsvollen Welt. Dem entzieht sich der Namenlose jedoch konsequent. Sein Traum wäre ein Begehren, das nicht identifiziert. Weil das aber nur im Imaginären möglich ist, wird Faserland zum Text eines Melancholikers.

Während dieses zerfaserte Ich aus Faserland sich in der Mittelmäßigkeit aus Babourjacken auflöst, reagiert die Autorenfigur Christian Kracht auf das gleiche Problem mit der Selbstverkunstung des Dandy: Er errichtet eine Welt der Markennamen und ästhetischen Genüsse, deren Kulisse sich in entscheidenden Momenten als zu glatt erweist. We'll slide down the surface of things: In Tristesse Royale erleidet der Kracht-Darsteller einen Zusammenbruch und muss von einem Pfarrer betreut werden. „Sie haben ja gar keine Selbstdefinition“, hält der Geistliche ihm vor. Nach der seitenlangen Dechiffrierung von distinktiven Codes erscheint in dieser Situation die radikale Leere hinter den Zeichen. Sie erzeugt eine unermessliche Angst, könnte man doch selbst ebenso leer sein und damit zum lebenden Toten, zum Gespenst, werden.

Auch Krachts jüngster Roman 1979, aus dem er morgen in Hamburg lesen wird, ist eine Auslöschungsgeschichte. Ein einfältiger Innenarchitekt begibt sich während der islamischen Revolution von Teheran aus auf eine mühevolle Pilgerreise nach Tibet, um seine Seele zu reinigen. Am Fuße eines heiligen Berges wird er von chinesischen Soldaten aufgegriffen und in verschiedene Internierungslager gesperrt. Die Berluti-Schuhe haben sich im Gebirge längst aufgelöst, die Warenwelt existiert nicht mehr. Übrig bleibt die 38 Kilo leichte Hülle eines Menschen, der sich selbst als „guter“ Gefangener bezeichnet: absolut willenlos und ohne Identität.

1979, das oftmals als Kommentar zum 11. September gelesen wurde, beschreibt ein Subjekt, das sich diametral entgegengesetzt zum islamistischen Terroristen verhält. Denn letzterer hat, was Krachts Figuren so sehr vermissen: ein Begehren, so stark, dass es sich scheinbar dafür sogar zu sterben lohnt.

Lesung: morgen, 20 Uhr, Mojo

Christian Kracht: 1979, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 183 S., 17,90 Euro