bernhard pötter über Kinder Größenwahn am Küchentisch

Zwischen Genie und Wahn: Kaum kann der Sohn bis zehn zählen, albträumen wir vom Wunderkind

Jonas genoss seinen Auftritt sichtlich. Umringt von drei Kindern saß er im Kindergarten auf dem Sofa und hielt sich sein Lieblingsbuch vor die Nase: „Towser und das Schreckensding“. Die anderen lauschten interessiert, wie der Hund Towser vor dem Monster flieht: „Zum Glück kam Towser zu einem Schloss, und zum Glück hatte das Schloss ein offenes Tor. Towser flutschte ins Tor hinein. Das Schreckensding war eine Spur zu langsam. Vor der Nase schlug ihm Towser das Tor zu.“

Wozu braucht er mich eigentlich noch, wenn er allein Bücher lesen kann, dachte ich. Moment: Lesen? Der Knabe ist dreieinhalb. Er hält das Buch sogar richtig herum. Und er zitiert exakt den Text des Buches. Aber er kann doch nicht lesen! Auch wenn er uns prompt berichtigt, wenn wir es wagen, vom Text eines Buches nur für ein Komma abzuweichen. Er kann doch nicht lesen!! Oder ist er einer von denen, die mit vier Jahren lesen und in der Grundschule als dritte Fremdsprache Arabisch lernen? Mein Sohn – ein Genie?

„Das hättest du wohl gern“, seufzte Anna. „Er kann seine Bücher eben alle auswendig. Das ist eine alte Erfolgsstrategie von Analphabeten: Die Texte aufzusagen, als ob man sie lesen könnte.“ Wenn das so ist, ist Jonas ein sehr erfolgreicher Analphabet. Zu seinem Repertoire gehören die Heinzelmännchen genauso wie die Pumuckl-Kassette. Also wohnt bei uns doch nur ein dressierter Papagei?

Ganz und gar nicht. Die Festplatte im Hirn eines Dreijährigen ist bereits erstaunlich gut bestückt. Muss sie ja auch. Die Kinder können keine gelben selbsthaftenden Merkzettel überall hinkleben, sie können keine Notizbücher und Palm Tops mit Informationen laden. Ihnen bleibt für Datenverarbeitung nur der Raum zwischen ihren Ohren. „Wir nutzen nur ein Zehntel unseres Gehirns“, hat Einstein gesagt. Er wusste, wovon er sprach, denn er war selbst ein Genie. Aber er kannte meinen Sohn nicht.

Denn Jonas und Genossen zeigen viel versprechende Anlagen. Beim Memory-Spiel habe ich gegen sie ohne Schummeln keine Chance. Sie basteln sich aus drei leeren Klorollen eine Ritterburg und aus beiläufigen Bemerkungen ihrer Eltern eine Weltanschauung. Ihre Visionen werden von ihren Zeitgenossen belächelt. Sie fertigen abstrakte Zeichnungen voller Kreativität und Tiefsinn. Sie prognostizieren Börsenkurse besser als Fondsmanager (allerdings schlechter als Schimpansen). Sie haben das absolute Gehör, ob irgendwo Schokoladenpapier raschelt. Sie leben ohne Rücksicht auf Konventionen einer Gesellschaft, die es verbieten, mit den schlammigen Stiefeln an den Füßen ins Bett zu kriechen. Und sie reißen sich auf offener Straße die Kleider vom Leib, wenn ihnen was nicht passt. Genie und Wahnsinn liegen eben dicht beieinander.

„Wir haben ein Problem“, sagte ich vor dem Abendessen zu Anna, nachdem mir all das klar geworden war. „Jonas ist wahrscheinlich doch ein Genie.“ Im Geist sah ich sein Leben vor mir: Einschulung mit 4, Abitur mit 13, Professur für kybernetische Algebra mit 18, Nominierung für den Nobelpreis mit 27. Mein Kind ein einsamer Bewohner des Elfenbeinturms, mit fahrigen Bewegungen und zerknautschten Hemden, der Streber, der nie ein Mädchen abbekommt. Ein Leben zwischen „Wunderkind Tate“ und „A Beautiful Mind“. Und ich als Vater Graf der Scientific Community. Mit Fotomodells und Plastiktüten voller Geld. „Wir müssen was tun“, sagte ich. „Vielleicht sollten wir ihn am Wochenende doch vor den Fernseher setzen.“

Meine Frau war natürlich dagegen. „Ich sage dir, er ist kein Genie“, beruhigte sie mich. „Manchmal vergisst er sogar, wie seine Schwester heißt.“ Er zieht linke Schuhe rechts an und rechte Schuhe links und will seine Zähne nicht bürsten. Und überhaupt, sagte Anna: Was Jonas da so leiste, schaffe jeder Orang-Utan, der nicht vor Dummheit aus dem Baum fällt.

Dann aber wurde das beginnende Drama des hoch begabten Kindes vorerst vom Spielplan abgesetzt. Beim Abendessen zeigte Jonas auf die Packung mit dem Knäckebrot und las vor: „Hier gibt es U-Boote zu verkaufen.“ Was? Schreckte ich von meiner Käsestulle hoch. Was schreiben sie jetzt wieder für einen Quatsch auf die Packungen, um die Kinder zu ködern? Ich griff mir das Knäckebrot. Voller Unschuld stand da: „kernig-nussig, knusprig im Biss. Mit Jodsalz.“ Ich schaute auf. Jonas grinste. So sieht ein Familienclown aus. Aber kein Genie.

Und dann dachte der Vater in mir: Diese Fantasie. Einfach genial.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de