Neue Protestpartei

Die FDP verdankt ihren Erfolg dem Wunsch, dass sich irgend etwas bewegt – egal, was

aus Berlin ULRIKE HERRMANN

Cornelia Pieper hat den größten Wahlerfolg eingefahren, den je eine Frau in der Bundesrepublik verzeichnen konnte. Dennoch denkt jetzt ein Mann darüber nach, ob er Bundeskanzler werden will: FDP-Chef Guido Westerwelle. Nach dem Motto: Wenn Cornelia Pieper das liberale Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt verdreifachen konnte, obwohl sie eigentlich nur eine einzige vermessene Botschaft hatte, nämlich den Posten der Ministerpräsidentin anzustreben – warum sollte ihm dann nicht das gleiche Stimmenwunder als „K-Kandidat“ bei der Bundestagswahl im September gelingen? Jedenfalls trägt Westerwelle die angepeilte Prozentzahl 18 schon an den Schuhsohlen zur Schau.

Sein Optimismus wird allerdings von Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen nicht geteilt. Es sei am Sonntag „keine neue Zeitrechnung“ angebrochen. Schließlich habe die FDP in Sachsen-Anhalt 1990 auch schon einmal 13,5 Prozent erreicht, um dann bundesweit schlechter abzuschneiden.

Allerdings saß die FDP damals in der Bundesregierung. Diesmal kann sie auch bundesweit nutzen, was sie in Sachsen-Anhalt so nach vorne schießen ließ – „den Vorteil des Außenseiters“ (Jung). Und das frei flottierende „Nörgelpotenzial“ in der Bevölkerung ist groß, wie der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter bestätigt. Dies gilt selbst für Schichten, wo FDP-Anhänger am wenigsten zu erwarten wären: bei den Arbeitern. Sie wählten diesmal zu 10,8 Prozent die FDP in Sachsen-Anhalt. Westerwelle folgerte daraus gestern triumphierend: „Wir sind eine Partei für das ganze Volk, nicht nur für die Champagneretage.“

Und er schob gleich noch die Wähleranalyse hinterher: 95.000 Stimmen hat die FDP in Sachsen-Anhalt dazugewonnen – davon stammen 43.000 von der SPD. Offiziell. Denn jede Analyse der Wählerwanderungen könne nur „scheinseriös“ sein, wie Wahlforscher Matthias Jung einräumt. Das hat systematische Gründe: Die Untersuchungen beruhen darauf, Wähler nach ihrem Stimmverhalten bei der letzten Wahl zu befragen. „Aber jetzt will natürlich kaum noch einer zugeben, dass er vor vier Jahren für die DVU war.“ Und so wird für immer ungeklärt bleiben, wie stark die neue Protestpartei FDP vom Niedergang der letzten Protestpartei in Sachsen-Anhalt profitiert hat.

Doch trotz dieser quantitativen Unsicherheiten: Sicher ist, dass sich die FDP als „Verdrusspartei“ (Walter) etabliert hat. Ihre klassische Mittelstandspolitik verbindet die FDP neuerdings mit „symbolischem Aktivismus“. Der Göttinger Politikwissenschaftler hält es nicht für Zufall, dass Möllemanns scharfe Kritik an Israel von Westerwelle unterstützt wurde. Es sei einer „der letzten möglichen Tabubrüche“.

Damit bedient die FDP als einzige Partei ein Paradox: Auch ein relevanter Teil der „Mitte“ wolle Polarisierung, so Walter. Diese Wähler wollten erleben, dass sich etwas „bewegt“. Der neueste FDP-Slogan bringt die Idee der ziellosen Tat auf den Punkt: „machen. machen. machen.“ Das erinnert an Focus, an die Erfindung des Infotainments.

Auf diesen Wunsch nach „politischem Sofortismus“ hätten weder Schröder noch Stoiber eine Antwort. Denn sie müssten sich den „zentralen Fragen der Nation“ stellen, zu denen die FDP einfach schweigt: ob es die Integration von Zuwanderern ist oder die Gesundheitspolitik – Konzepte der Liberalen sind nicht bekannt. Es fragt auch niemand. „Keine Partei ist in der letzten Zeit von den Medien so geschont worden wie die FDP“, analysiert Walter.