Viel Regen, viel Liebe, viel Wahn

Familientechnisch modern: Schwangere Lesben und eifersüchtige Söhne proben in Reykjavík neue Lebensmodelle. Außerdem macht die isländische Filmreihe im Babylon mit Männer bekannt, die sich für Hitler oder die Beatles halten

Freud schreit Hurra: Hylnur ist eifersüchtig auf seine Mutter

Wie man sich täuschen kann. Freunde erzählten unlängst, sie seien einmal dem Wetterbericht hinterhergereist. Sie wollten das Entstehungsgebiet des „Tiefs über den Azoren“ erkunden. Sie flogen tatsächlich auf die Azoren – und hatten zwei Wochen Sonnenschein. Das „Island Hoch“, das in diesen Tagen unsere Kultur erwärmt, scheint in seinem Ursprungsgebiet dementsprechend nicht vor heftigen Schneefällen und Regenstürmen zurückzuschrecken.

In „101 Reykjavik“ – der Filmtitel geht auf eine Postleitzahl zurück – jedenfalls stapfen die jungen IsländerInnen oft im Schneematsch durch die nächtlichen Straßen ihrer kleinen Metropole. Meist auf der Suche nach der nächsten Disko oder Privatparty, wo sich immer wieder die gleichen, irgendwie sehr, sehr sympathisch rüberkommenden Menschen treffen. Einer von ihnen ist Hlynur. Der wohnt noch bei seiner Mutter und hat mit den weltweit üblichen Problemen zu kämpfen: Wenn er vormittags im Handtuch aus der Dusche kommt und erst mal die E-Mails lesen will, quatscht Mutti ihm dazwischen.

Hlynur ist ein recht bequemer, manche in Reykjavik sagen, fauler Zeitgenosse. Er hat keinen Bock zu arbeiten (was bei nur 1 Prozent Arbeitslosigkeit gar nicht so leicht ist) oder sich eine eigene Bude zu suchen. Dafür hat er einen recht guten Draht zu jungen Mädels. Bei denen allerdings hält ihn nichts mehr im Bett, wenn der Sex vorbei ist. Er schläft gern mit, aber nicht bei ihnen. Dadurch kriegen wir immer wieder Bilder vom morgendämmrigen Reykjavík zu sehen, wo Hlynur bei Bedarf dann gleich die nächste Nachtschwärmerin anbaggert.

Kompliziert wird seine Situation durch eine sehr moderne, aber familientechnisch nicht ganz einfache Entwicklung. Mutti nämlich liebt nicht nur Sohnemann (platonisch), sondern auch ihre Freundin (nicht nur platonisch). Das bekommt Hlynur zunächst nicht mit und verliebt sich in die gleiche Frau. So entspannt sich eine dreieckige, zunehmend scharfkantige Geschichte, die für den Sohn zu einer von Gendernauten entworfenen Horrorfantasie zu werden droht. Bevor Hlynur kapiert, was die Lesben planen, hat er schon mit Muttis Freundin gebumst. Abgeklärt und selbstbestimmt wie die ist, hat sie sich das mal gegönnt. Freud schreit Hurra: Hlynur ist eifersüchtig auf seine Mutter und die gesteht ihm nach ihrem Outing auch gleich noch die weiteren Pläne: Ein Geschwisterchen für ihn sei schon in Arbeit. Von wem, weiß Mutti natürlich nicht. Eine böse Satire, in der nicht nur gebärwillige bisexuelle Lesben, sondern auch gleich noch ödipussisierte Heterojungs karikiert werden. Gleichzeitig eine heftige, aber gewitzte Konfrontation zwischen der Vögel-dich-frei-Generation um die 40 und ihrer Nachkommenschaft. Sehr nett ist, wie Hlynur seiner Sachbearbeiterin beim Arbeitsamt von seinem Leid mit den Lesben erzählt, anstatt auf Arbeitsangebote einzugehen.

Die Geschichte einer Psychose, von Verfolgungswahn und Schizophrenie erzählt (interessant anders als „Das weiße Rauschen“) der sehr schöne und traurige Film „Angels Of The Universe“ von Fridrik Thor Fridriksson, der auch schon einmal kurz in Berlin zu sehen war. Der künstlerisch talentierte Paul kriegt die Kurve zwischen Dämonen, seinen Bildern, die er malt und der Realität auf der Straße nicht. Außerdem ist er unglücklich in Dagny verliebt. Auch er lebt noch bei den Eltern – ist das vielleicht ein speziell isländisches Phänomen? Die Eltern bringen ihn dann irgendwann im Auto weg.

Andere werden von schweigenden Polizisten in eine hübsch am Meer gelegene Klapse gefahren. Der eine hält sich für Hitler und ist für die Ausrottung aller Kranken, die mit ihm auf dem Gang sitzen und immer rauchen. Der nächste Patient hat einen sehr guten telepathischen Draht zu den Beatles, die seine im Kopf selbst komponierten Stücke rausbringen. Subversiv-islandkritisch-ironisch ist ein Besuch der drei Irren ohne Geld im Luxusrestaurant.

Natürlich gibts auch eine Doku über Island-Pop beim Festival („Rock in Reykjavik“). Dann wäre da noch die merkwürdige, neblige Geschichte einer großen Landhochzeit im Jahre 1913 („The Dance“). Während die Hochzeitsgesellschaft noch mit den Vorbereitungen zur Trauung beschäftigt ist, zerschellt vor der zerklüfteten Küste ein kleines englisches Schiff. Die Männer seilen sich von der Steilküste ab, um die Schiffbrüchigen zu retten. Wahre Männerprüfungen in welligem Wasser stehen an. Einer der Hochzeitsgäste nutzt seine Kopfverletzung, um sich heftig in die Frau zu verlieben, die ihm den Verband wickelt. Das Hochzeitspaar zerstreitet sich natürlich in der Nacht vorm Jawort. Auch hier sehr viel Regen.

ANDREAS BECKER

Island Hoch, Filme im Filmkunsthaus Babylon, Termine siehe taz-plan