berliner szenen Geographie, Ethnologie

Trachtengruppe, tanzend

Das Schönste am Prenzlauer Berg ist immer noch die Staatsbibliothek. Denn wie mir ein Geografiestudent unlängst in der dortigen Cafeteria erklärt hat, gehört die halbe Innenstadt inklusive Kulturforum, „mal rein vom geologischen Standpunkt aus gesehen“, zu den Ausläufern des Mittelgebirges, das dem Bezirk Prenzlauer Berg seinen Namen gegeben hat. Na ja. Ich wollte noch genauer nachfragen, aber an diesem Tag hatte der Geograf nicht die beste Laune, war er doch gerade durch die Diplomprüfung gefallen.

So musste ich mir meinen Teil denken: Natürlich ist es immer eine Frage der Verhältnisse. Der höchste Berg der Welt ist ja auch nicht der Mount Everest, sondern irgendein Vulkangebirge auf Hawaii. Vorausgesetzt, man rechnet brutto alles mit, was unter dem Meeresspiegel liegt. Wenn man sich den märkischen Sand wegdenkt, ist der Prenzlberg so eine Art Alpengipfel. Kein Wunder, dass einheimische Trachtengruppen am Kollwitzplatz jedes Jahr Walpurgisnacht feiern! Überall sieht man Schäferhunde. Schafe komischerweise nie. Mit Alphörnern verständigen sich die Prenzlberger bei günstigen Windverhältnissen mit den Nachbarn auf dem Kreuzberg. Im lokalen Dialekt heißen die Alphörner „Joints“ und werden traditionell aus Papier gefertigt. Manche Gebräuche der Alteingesessenen sind volkskundlich nur sehr schwer zu erklären. So zum Beispiel die archaische Sitte, am 3. Oktober Zweimarkstücke mit dem Konterfei von Franz Josef Strauß in die Gullys zu werfen. Werden in diesem Jahr Eurostücke mit Bundesadler denselben Weg gehen!? Auf jeden Fall ziehen am nächsten Tag immer orange gekleidete Männer mit Besen durch die Straßen und sind sternhagelvoll. Merkwürdig.

ANSGAR WARNER