Das ganz normale Leben leben

Vom Irrenhaus zur Etagenwohnung: Peter Næss hat mit Elling den Roman „Blutsbrüder“ des in Hamburg lebenden norwegischen Autors Ingvar Ambjørnsen verfilmt  ■ Von Stefanie Maeck

Elling und Kjell Bjarne, ehemalige Zimmergenossen aus der Psychiatrie in Brøynes, beide gerade als geheilt entlassen, sind ein Paar. So unterschiedlich, wie man es sich nur vorstellen kann. Zur Reintegration in das „richtige“ Leben werden sie in eine Wohnung gesteckt, bezahlt und im Ikea-Stil hergerichtet von der Stadt Oslo. Einen lebenspraktischen und derb-heiteren Sozialarbeiter bekommen sie auch noch zur Seite gestellt – von ihnen schlicht „die Sozialratte“ genannt. Fortan sollen sie dem Leben und seinen Unwägbarkeiten wacker und unverzagt trotzen.

Muttersöhnchen Elling – stets im ockerfarbenen Pullunder und das Hemd bis oben zugeknöpft – würde am liebs-ten gar nicht aus dem Haus gehen. Er ist für die Ideologie und die Dekoration mit Fotos der verehrten Mutter in der Wohnung zuständig. Der schwergewichtige und schon mal cholerisch gegen die Wand schlagende Kjell Bjarne dagegen ist für das Einkaufen und andere praktische Dinge – wie das Organisieren von Telefon-Sex-Nummern – verantwortlich. Als Kjell Bjarne am Heiligen Abend die besoffene Nachbarin auf der Treppe aufliest, wird sich das Leben der beiden in dramatisch neue Bahnen begeben.

Elling wird sich zum Poeten mit Trenchcoat und dunkler Sonnenbrille wandeln, Kjell Bjarne auf Umwegen zur Vaterschaft kommen. Nebenbei haben beide ein ers-tes Besäufnis unter der großen Anteilnahme eines Cafés für die Geburt von Kjell Bjarnes schwergewichtigem Kind. Und endlich ist der Sozialarbeiter auch mal zufrieden mit den beiden. Denn Leben ist, wenn auch mal eine Sofa-Garnitur vollgekotzt wird.

Regisseur Petter Næss streift das Psychiatrie-Genre nur flüchtig zu Beginn seines Films, ohne jedoch hier in eine erklärende Tiefe zu gehen oder Fragen zur Psychologie oder Genese seiner Figuren aufzuwerfen. Und dies ganz bewusst. Vielmehr dient ihm die Pathologie als narrativer Aufhänger, um zwei ultimativ verschiedene Figuren auf eine Reise zu schicken, an deren Ende eine glückliche Selbstfindung steht. Unterwegs soll viel gelacht werden, denn selbst ein Telefon kann zum unüberwindlichen Hindernis für zwei ausgemachte Neurotiker werden. Wie im Entwicklungsroman, an dessen Ende die Ungeheuer schachmatt in der Ecke liegen oder zumindest in Teilen besiegt sind.

Wenn Elling und Kjell Bjarne das erste Mal aushäusig speisen, der dickbusigen Kellnerin gerade mit leuchtender Begeisterung anvertraut haben, dass sie noch nie so lecker gegessen haben und Elling tapfer den Raum durchquert, um ein fremdes Klo zu benutzen, dann ist es soweit: das Kinopublikum beginnt sich in sympathetischem Taumel aufzulösen. Diesen beiden skurrilen Gestalten, die ja im Grunde genommen nur Ängste ausleben, die jeder im Kleinen ansatzweise schon mal verspürt hat – diesen beiden Figuren wünscht man von ganzem Herzen, dass sie es schaffen, den Feind, das alltägliche Leben, zu besiegen.

Hinter dieser sympathieheischenden Geste des Films steckt aber selbstverständlich ein Kalkül – und eine fragwürdige dramaturgische Strategie: das Gleichstimmen des Publikums zu einer einzigen mitfühlenden Masse. Filme, die so zwingend auf ein Gefühl hin angelegt sind – ausgenommen natürlich die großen klassischen Melodramen – nehmen schließlich weder ihr Thema noch das Publikum ernst genug. Die individuelle Freiheit, auch noch anders zu empfinden, wird vom narrativen Fluss hier eigentlich gar nicht mehr gewährt. An manchen Stellen von des Films erscheint es einem einfach „billig“, die Differenzen zwischen zwei Figuren in einer teilweise kammerspielartig angelegten Inszenierung so sehr auszureizen und alle witzigen Ideen zu einem großen, auf Identifikation abzielenden Rührstück verkommen zu lassen.

Bemerkenswert an Elling ist jedoch die unglaubliche darstellerische Leistung von Per Christian Ellefsen, der die Versteifung und Zögerlichkeit des akkuraten Elling in seinen Bewegungen täuschend echt einfängt. Und mit wenigen Gesten erreicht, dass man sich einbildet alles von dieser Figur schon einmal im richtigen Leben gesehen zu haben.

Das richtige Leben – so wie dieser Film es sich vorstellt – haben am Ende zumindest Elling und Kjell Bjarne ganz gut gemeistert. Die Kamera erhebt sich zuversichtlich über das Gewimmel der kleinen regennassen Osloer Straßenzüge, um Elling im sanften Spätnachmittagslicht in ein rosarote Zukunft entschwinden zu lassen.

Previews: Do, 20 Uhr, Zeise + Mo (anschließend Publikumsgespräch mit Ingvar Ambjørnsen), 20 Uhr, Abaton (Filmstart: 2. 5.)

Ingvar Ambjørnsen: Blutsbrüder, Pieper München 1999, 255 S., 8,90 Euro