Das Spielkind kann nicht spielen

Der Münchner Mehmet Scholl muss seinem fragilen Körper Tribut zollen – und seine Teilnahme an der Fußball-WM in Japan und Südkorea absagen. Nun hofft er, dass man ihn deswegen nicht zum Vaterlandsverräter abstempelt

BERLIN taz ■ Natürlich muss man sich jetzt Sorgen machen um die deutsche Fußballnationalmannschaft, noch mehr als ohnehin. Aber natürlich muss man auch die Entscheidung von Mehmet Scholl, dem begabtesten Fußballer dieses Landes, respektieren. Mehr sogar: Man kann sie verstehen. Um was es geht? „Warum sagen Sie Ihre Teilnahme an der WM ab?“, wurde Scholl am gestrigen Mittwoch in der SZ gefragt. Und geantwortet hat er: „Weil ich mich nicht in der Lage fühle, der deutschen Nationalmannschaft und Rudi Völler zu helfen. Ich bin keine 20 mehr, sondern bald 32, und die WM ist ein kraftraubendes Turnier. Da kann ich nicht einfach hinfahren, einer Viertelstunde mitspielen und einen Freistoß reinhauen.“ Das ist bitter – für Scholl und die deutsche Mannschaft; aber es ist mindestens genauso wahr – und damit unabänderlich. Wie gesagt: Man muss diese Entscheidung respektieren.

Keine Frage: Die DFB-Elf wird in Japan ohne den fintenreichen Mittelfeldakteur des FC Bayern noch älter aussehen, und das nicht nur, weil Scholl trotz seiner bald 32 immer noch glatt als Lausbub Anfang der zwanzig durchgeht. Seine Tricks werden Völler fehlen, seine Dynamik, seine überraschenden Ideen, zu denen sonst nicht viele fähig sind im eher rustikal veranlagten DFB-Team. Aber andererseits: Wer sagt denn, dass Scholl gesundheitlich überhaupt in der Lage gewesen wäre, Haken zu schlagen auf den Fußballfeldern Japans und eventuell Südkoreas?

Mit den Folgen eines Bandscheibenvorfalls kämpft der ehemalige Karlsruher, immer noch und so stark, dass er nach eigenen Angaben nach wie vor „keine Linkskurve laufen kann“, auch wenn er am Samstag für die Bayern (wo eine gewisse Rechtslastigkeit ohnehin nicht weiter auffällt) gespielt hat. Das Kreuz mit dem Rücken ist freilich nur die Folge zuvor erlittener Verletzungen (Innenbandanriss und Sprunggelenk), die Scholl, ohnehin mit einem eher fragilen Körper ausgestattet, nicht richtig ausgeheilt hat, eben weil er möglichst schnell wieder fit werden wollte – und zur WM. „Diese WM lag wie eine Last auf mir, die ganze Zeit. Ich habe dafür gearbeitet, mich diszipliniert – und das Rad überdreht. Der Körper hat mir Signale gesendet, und ich habe sie ignoriert. Aber du kannst deinen Körper nicht bescheißen“, sagt Scholl der SZ, und es gibt nicht den geringsten Grund, ihm das nicht zu glauben: Der Mann ist ein Spielkind, auch mit seinen 31 – und nichts, so viel steht fest, täte er lieber als unbeschwert und schmerzfrei mit dem Ball zu spielen, gerade bei einer WM, die er noch nie aktiv erlebt hat: Auch 1994 und 98 war sein Körper vor den Turnieren in Streik getreten.

Scholls Malaise bringt freilich auch Rudi Völler in die Bredouille, und das gar nicht so wenig. „Da hoffen wir auf Scholl und Deisler“, hatte der DFB-Teamchef nach der spielerischen 0:1-Pleite gegen Argentinien in Stuttgart vor Wochenfrist noch gesagt. Nun hat sich nicht nur Völlers Hoffnung auf ein Plus an Kreativität im deutschen Spiel halbiert, sondern sein Vorhaben, auch lange Zeit angeschlagene Spiele ohne Spielpraxis mit nach Fernost zu nehmen, wurde mehr denn je als extremes Risiko enttarnt. Dass Völler kaum eine andere Wahl hat als dieses einzugehen, ist freilich unbestritten. Die Last der WM, die Scholl so lange verspürte, ruht nun allein auf Deislers Schultern. Angeschlagen ist freilich auch er.

„Was nun, Rudi?“, sorgt sich bereits Bild, vom „Super-Gau für die Kreativ-Abteilung“ ist die Rede. Und zitiert wird unter anderem der Brasilianer Giovane Elber, Scholls Bayern-Kollege. „Als Brasilianer würde ich sogar zu Fuß nach Japan gehen“, darf Elber sagen – und irgendwie schwingt da dann der Hauch eines Vorwurfs mit an Scholl, der Boulevard tickt halt so und es wird bestimmt noch heftiger. „Sie wissen, dass einige Sie jetzt zum Vaterlandsverräter stempeln werden?“, hat der SZ-Reporter Scholl deshalb in weiser Voraussicht gefragt. Und Scholl geantwortet, dass ihm das bewusst sei, er aber keine andere Wahl habe, eben weil er doch am besten wissen müsse, ob er der Nationalelf helfen könne oder nicht. „Wenn jetzt eine Kampagne einsetzt, dann bin ich als Einzelner natürlich verloren“, sagt Scholl außerdem. Und: „Man muss die Entscheidung nicht lieben, aber ich wünsche mir einfach, dass man das akzeptiert und die Leute mich respektieren, weil sie sagen: Das ist ein guter Fußballspieler. Darum bitte ich – um nichts sonst.“ Man sollte seiner Bitte entsprechen.

FRANK KETTERER